Revelations
jede Armee, jedes Land und jede Rohstoffquelle. Leider kann man sie nicht erobern, sondern lediglich überzeugen und für die eigene Sache gewinnen.«
»Dann dient dieses ganze Spiel nur dazu, mich zum Überlaufen zu bewegen?«, fragte Angel zweifelnd, obwohl ihr die Rolle keinesfalls unbekannt war. Paul hatte sie ein Jahr vor ihrer schicksalhaften Begegnung mit Butch und Victor zu bekehren versucht. Bedingt durch ihre einzigartige Stellung als weibliche Kommandeurin waren der legendären Vulturebraut und berüchtigten Schlächterin von Archer Hill auch wiederholt Offerten der unterschiedlichsten Gangs zugetragen worden. Jedoch hatte ihr noch nie jemand zunächst wortwörtlich den Boden unter den Füßen weggerissen und erst im Anschluss daran sein Angebot unterbreitet.
»Warum nicht?«, antwortete Jade mit selbstsicherem Blick. »Du hast es doch schon einmal getan.«
Das lange Stehen in tiefster Dunkelheit ließ sie allmählich frösteln. Ihr dünner Ledertrenchcoat war zwar äußerst kleidsam, wärmte aber kaum, so dass sie bibbernd die Arme verschränkte, ihren Kopf zwischen dem hochgeklappten Kragen vergrub und ein paar Schritte um Angel herumstolzierte.
»Wie wäre es, wenn du mir nach all meinen wahrheitsgetreuen Informationen auch mal etwas zukommen lassen würdest?«, fragte sie fordernd. »Ein Nachschubdepot zum Beispiel, an das ihr ohnehin nicht mehr herankommt?«
Angel spürte, wie das Papier mit der Route zur verfluchten Militärbasis auf ihre Brust zu drücken begann. Jade standen mit Sicherheit Mittel und Wege zur Verfügung, um den Bunker zu öffnen, unter dem sich das versteckte Forschungslabor befand. Aber das dort hausende Wolfsrudel war gezüchtet worden, um hochgerüstete Armeen im Kriegseinsatz zu bekämpfen und hatte zwanzig Jahre Zeit zur unkontrollierten Vermehrung gehabt. Nicht einmal die Sicarii sollten auf so einen Gegner vorbereitet sein.
Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie, die unschuldig herumtänzelnde Schwertkämpferin in den sicheren Tod zu schicken. Zwischen all den Angeboten des Überlaufens fühlte sie sich ihrem am meisten zugetan. Am Ende stand es für sie dennoch außer Frage, das Andenken General Monroes zu entehren oder ihre Kameraden zu verraten. Außerdem blieb ihr gar keine Wahl, wenn sie den Flüchtlingen Raum zum Atmen verschaffen wollte.
»Versuch es mal hier«, erwiderte sie und zog das zusammengefaltete Papier aus der Brusttasche ihrer Uniform. Jade breitete es aus, drehte sich zum Licht des nächsten Lagerfeuers und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Wir wussten gar nicht, dass ihr so weit oben noch Enklaven habt.«
»Das ist keine unserer Siedlungen«, erklärte Angel flüsternd und schaltete dabei vorsorglich ihr Headset ab, so als wollte sie verhindern, dass Cassidy von ihrer kleinen Planänderung erfuhr. Sie hielt es für richtig, Jade zumindest eine faire Warnung zukommen zu lassen. »An der Stelle liegt ein verlassener Militärstützpunkt. Mehr kann ich dir nicht sagen, aber geh nicht allein.«
Jade war die Heimlichtuerei nicht verborgen geblieben. Sie respektierte ihren Wunsch und ließ das Papier unauffällig in ihrem Trenchcoat verschwinden.
»Was nun?«, wollte Angel wissen.
»Was nun«, wiederholte Jade gedankenversunken. »Soll ich dich abführen lassen, wie du es mit mir getan hast? In einen Käfig gesperrt und ausgestellt wie eine Zirkusattraktion?« Sie ließ ihre Worte einen Moment lang wirken, obwohl inzwischen beide Frauen wussten, dass es nicht dazu kommen würde. »Nein, ich denke nicht. Du wirst mich auf der Suche nach deinem Stamm von ganz allein aufsuchen. Unser Pass ist wohl kaum der einzige Weg über das Gebirge.«
»Warum sagst du mir nicht gleich, wo ich sie finde?«, schlug Angel vor, woraufhin Jade amüsiert mit den Augen funkelte.
»Weil es ebenso eine Lüge wäre, wie die Karte zu eurer prall gefüllten Waffenkammer, nicht wahr?«
Bevor Angel sich rechtfertigen konnte, winkte sie bereits ab.
»Dein Weg führt über das, was ihr Hadesgebirge nennt. Vierhundert Kilometer östlich von hier auf der anderen Seite wirst du eine tiefe Schlucht finden. Folge ihr, bis du auf eine stählerne Bogenbrücke triffst. Überquere die Brücke in Richtung Osten und halte diesen Kurs einen Tag lang.«
Angel versuchte in ihren smaragdgrünen Augen eine List zu entdecken und vermutete eine weitere Falle.
»Es ist keine Falle«, beschwichtigte Jade ihre offensichtliche Sorge. »Aber auch du solltest ...« Sie schwieg einen Augenblick
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