Revelations
geschickt?«, überlegte Caiden angestrengt. Gern hätte er Faith in den Arm genommen und ihr versprochen, sie zu beschützen, doch er schätzte seine eigene Gesundheit viel zu sehr, um derart leichtsinnig zu handeln.
»Du meinst, um herauszufinden, was mit ihr geschehen ist?«, erwiderte sie und begann ihrerseits zu verstehen. »Das würde Jade ähnlich sehen. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Scarlet noch lebt. Außerdem haben sich die beiden bis aufs Blut gehasst.«
»Habt ihr Beweise für ihren Tod gefunden?«
Faith schüttelte den Kopf. »Während des Krieges haben wir ein paar unserer Spione entdeckt. Alle direkt unterhalb der Brücke, jedoch nirgends eine Spur von Scarlet.«
»Würdest du sie wiedererkennen?«
»Das ist leicht«, antwortete Faith nickend. »Ihr fehlt das linke Ohr.«
»Ihr fehlt ... wie ist das denn passiert?«, fragte Caiden. In seinen Gedanken entstanden affektartig Horrorszenarien über brutale Machtkämpfe innerhalb der Sicarii, wie er sie bei den Vultures erlebt hatte.
»Sie war die Tochter eines Richters, der kurz vor dem Kollaps gegen die aufkommenden Gangs gekämpft und viele davon ins Gefängnis gebracht hat. Ein paar wollten sich an ihm rächen, haben Scarlet entführt und ihrem Vater ihr linkes Ohr als Beweis geschickt.«
»Was ist ein ... Richter?«
»Ein Richter entscheidet über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten und legt anschließend das Strafmaß fest«, erklärte Faith. Es wunderte sie nicht im geringsten, dass Caiden derartige Institutionen nicht mehr kennengelernt hatte. »Scarlets Vater war dabei wohl nicht gerade zimperlich. Er ist auch auf keine der Forderungen eingegangen, sondern hat das Versteck der Entführer ohne Verhandlungen stürmen lassen.«
Faith begann zu lächeln, während sie fortfuhr.
»Scarlet hat mir immer wieder erzählt, wie ihre Eltern sie dazu drängten, sich für eine Prothese zu entscheiden. Stattdessen ließ sie ein Spinnennetz auf ihre linke Gesichtshälfte tätowieren. Kaum jemand bemerkt heutzutage den zurückgebliebenen Ohrstummel, selbst wenn ihr Haar vom Wind davongeweht wird. Sie sagt, sie betrachtet ihre Verletzung als eine Warnung davor, wie weit Menschen für ihre Ziele gehen können. Scarlet war damals schließlich noch ein Kind.«
»Hat es sie nicht gekümmert, dass ihr Vater so rücksichtslos vorgegangen ist?«, wunderte sich Caiden. Er war zweifelsohne die rauen Sitten der Endzeitsteppe gewohnt, aber in seinem Dorf war es normal gewesen, dass Eltern ihre Kinder zunächst zu schützen versuchten und nicht einfach blind drauflos schlugen, wenn sie jemand bedrohte.
»Zu Beginn schon«, gab Faith nickend zu. »Das war auch ein Grund für ihr Tattoo, das so gar nicht zu den gehobenen Kreisen ihrer Anwaltsfamilie passte. Aber mit der Zeit verstand sie die Notwendigkeit von rücksichtslosem Durchsetzungsvermögen. Wenn ihr Vater als Richter bei ihrer Entführung Schwäche gezeigt hätte, wäre sie vermutlich nicht nur einmal zum Opfer geworden.«
»Leben ihre Eltern eigentlich noch?«
»Ihr Vater ist vor vier Jahren gestorben und war lange Zeit Senator in unserer Hauptstadt Sicariia. Scarlets Mutter lebt in Alexandria, der Heimat der Bacchae.«
»Und was ist mit deiner Familie, jetzt, wo du als Verräterin giltst?«, fragte Caiden vorsichtig, doch darauf wusste Faith keine Antwort. Bisher war noch nie eine Bacchae zum Feind übergelaufen. Nach dem jahrelangen Drill und den schier unbegrenzten Freiheiten hatte es nie einen Grund dafür gegeben. In diesem Moment wurde Caiden bewusst, dass Faith sich nicht nur um ihr eigenes Schicksal sorgte.
***
Mit den ersten Sonnenstrahlen trommelte Angel ihr Team aus den Schlafsäcken. Sie wollte so viel Tageslicht wie möglich in dem unbekannten Territorium nutzen und hoffte, die von Jade beschriebene Brücke noch vor dem Abend zu erreichen. Sharon torkelte mit bleichem Gesicht durch das provisorische Gipfellager und trieb die anderen damit unbeabsichtigt zu größter Eile an. Ihr war wie jeden Morgen schlecht, doch nachdem sie erneut vierundzwanzig Stunden lang keinen Bissen herunterbekommen hatte, hielt sich ihr Erbrechen in Grenzen. Der akute Wassermangel machte ihr viel mehr zu schaffen. Die Vorräte waren trotz wiederholter Quellenfunde in den Tälern beinahe erschöpft. Die im Vergleich zum Beginn der Reise sehr leicht gewordenen Rucksäcke führten der ganzen Gruppe vor Augen, dass ihr Abenteuer schon bald auf die eine oder andere Art enden würde.
Bevor sie
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