Revenants Trilogie 01 - Von der Nacht verzaubert
warum Charles gesagt hat, ihr seid Gespenster.«
Vincent lächelte. »Wir sagen dazu, dass wir volant sind.«
» Volant? Bedeutet das nicht ›fliegen‹?«
»Genau. Und während wir volant sind, haben wir einen ziemlich feinen siebten Sinn. Das hat nichts mit Wahrsagerei zu tun, wir können dann einfach erspüren, dass etwas passieren wird und die anderen warnen, damit sie jemanden retten können. Es ist ein bisschen so, wie in die Zukunft sehen zu können, aber nur eine oder zwei Minuten — und nur in der unmittelbaren Umgebung.«
Streich den letzten Kommentar, es geht doch noch merkwürdiger.
Vincent hatte wohl bemerkt, dass ich plötzlich zögerlicher ging und daraus ganz richtig geschlussfolgert, dass mich das alles zu überwältigen drohte. Er zog mich zu einer der Steinbänke, die die Promenade säumten, und setzte sich zu mir, während er mir Zeit ließ, diese neuen Informationen zu verarbeiten. Vor uns zitterten die Spiegelungen der gegenüberliegenden Gebäude auf der Wasseroberfläche.
»Das muss sehr komisch für dich klingen, Kate. Aber das ist eine der Gaben, die wir Revenants besitzen. Eine unserer wenigen Superkräfte, wie du sie nennst. Als du Jules und mich in der Metro gesehen hast, waren wir genau genommen zu dritt. Ambrose war volant und hat uns informiert, unmittelbar bevor der Mann gesprungen ist. Jules sagte, er übernehme das. Ich sollte derweil versuchen, dass du nichts davon mitbekommst.«
Ein verlegenes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ambrose ist übrigens auch dafür verantwortlich, dass wir dich im Musée Picasso getroffen haben. Er hatte dich von draußen gesehen und schlug Jules vor, uns eine kleine Lektion über Kubismus zu geben.«
»Woher wusste Ambrose denn, wer ich bin?«, fragte ich ungläubig.
»Ambrose fand die Idee witzig, dass wir uns in die Arme laufen. Ich hatte den anderen nämlich schon von dir erzählt, noch bevor wir dich gerettet haben.« Er hob ein Blatt auf und zerrieb es zwischen den Fingern.
»Echt?«, staunte ich. »Was hast du ihnen denn erzählt?«
»Ja, das wüsstest du gern, was?« Er lächelte verschlagen. »Ich wär ja wohl ganz schön blöd, wenn ich all meine Geheimnisse gleich beim ersten Mal preisgeben würde. Lass mir doch wenigstens ein winziges bisschen Würde!«
Ich verdrehte die Augen und wartete ab, was er als Nächstes erzählen würde. Aber insgeheim freute ich mich riesig über dieses Geständnis.
»Zurück zum Thema. An dem Tag, als du fast von dem Fassadenteil zerquetscht wurdest, war ich volant und mit Charlotte und Charles unterwegs. Ich sah das Stück eine Minute eher aus der Fassade brechen, als es das wirklich tat, und sagte Charlotte, dass sie dich dringend dort weglocken müsse. Deshalb hat sie dich herangewinkt und dann haben wir darüber gestritten, wer dein Foto zu seiner Kollektion hängen darf.« Er lächelte und blickte von dem nun zerbröselten Blatt in meine Augen, um darin zu lesen, was in mir vorging.
»Wozu macht ihr denn die Fotos? Sind das eure ...«, es schüttelte mich, »eure Trophäen?«
»Nein, nein. Wir brüsten uns nicht damit. Und es ist auch kein Wettbewerb oder so was. Der Grund dafür ist ein anderer«, sagte Vincent. Sein Lächeln wich einer besorgten Miene. »Uns fällt es oft schwer, nicht besessen zu sein von den Menschen, die wir gerettet haben. Besonders in den Fällen, in denen wir für jemanden gestorben sind. Immer wieder zu sterben, fällt keinem von uns leicht. Da ist es schwierig, sich nicht dafür zu interessieren, was aus den Menschen wird, die wir gerettet haben. Ob die Nahtoderfahrung ihr Leben verändert hat. Ob das Opfer, das wir erbracht haben, so etwas wie einen Schmetterlingseffekt auf diese Person hatte, auf ihre Familie, auf ihre Bekannten und so weiter.«
Er lachte nervös. »Wenn wir nicht aufpassen, kann das sogar manchmal an Stalking grenzen. Ist schon vorgekommen. Es passiert schnell, wenn man nicht vorgewarnt wird. Unser Glück war, dass Jean-Baptiste schon ein paar Jährchen Erfahrung auf dem Buckel hat. Er sorgt dafür, dass wir uns an sein Drei-Schritte-Programm halten.« Vincent schmunzelte. »Wir dürfen die gerettete Person einmal aufsuchen und fotografieren. Dann dürfen wir im volanten Zustand höchstens zweimal zurückkehren und nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Von mehr wird strengstens abgeraten. Danach können wir nur noch nach Lust und Laune nach der Person googeln.«
»Diese Regel hat Ambrose also vorsätzlich über Bord geworfen, als er dich ins
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