Rheingau-Roulette
Ausdünstungen feucht-kalter Mäntel und dem dumpfen Geruch der anwesenden Menschen mischte, war erdrückend. Es war der Geruch des Todes, alt, modrig und belastend. Dagegen halfen auch die zart duftenden Blumengestecke nicht, die auf den Tischen dekoriert waren. Und auch wenn es tröstlich war, die Menschenmengen zu sehen, die sich von dieser liebenswerten alten Dame verabschieden wollten, halfen sie nicht über den Verlust hinweg. Es waren die nächsten Familienangehörigen, die sich gegenseitig den eigentlichen Trost gaben. Die bitteren Tränen, die Alexandra über den Verlust ihrer Großmutter weinte, wurden nicht durch das stattliche Erbe getrocknet, das ihre Oma ihr und ihrer Cousine Caroline hinterlassen hatte. Ihren Grundbesitz hatte sie zum Teil schon zu Lebzeiten in der Familie verschenkt. Den Hauptteil des Erbes hatte sie jedoch nur ihren beiden Enkelinnen, zu denen sie eine innige Beziehung pflegte, vermacht. Es gab noch ein beträchtliches Barvermögen, dessen Existenz bis dahin in der Familie unbekannt war. Dieses Geld stammte aus Spekulationsgeschäften, wie ihnen die Bank mitteilte. Dass Oma Liesel spekuliert hatte, wusste niemand und hatte die Familie sehr überrascht. Die Bank hatte Caroline und Alexandra als Haupterbinnen letzten Monat zu einem Gesprächstermin gebeten, um die Konten aufzulösen und zu fragen, was mit dem Geld geschehen sollte. Alexandra erbte die Hälfte, fünfzigtausend Euro von dem Barvermögen und das alte Haus, das auf einem riesigen, parkähnlichen Grundstück von etwa zweitausend Quadratmeter stand. Zuerst hatte sie sich gefreut, aber als sie im Ort ankam und sie sich das merkwürdige Haus mit den hässlichen grauen Fensterläden genauer ansah, wurde ihr schwindelig.
Seit ihrem letzten Besuch im Sommer waren die Spuren der Verwahrlosung wesentlich markanter geworden. Oma Liesel hatte keinen Sinn mehr darin gesehen, sich auf ihre alten Tage mit Handwerkern herumzuärgern. Sie hatte immer gesagt, für ihre Bedürfnisse sei es ausreichend komfortabel. Sie wolle keinen Dreck und Lärm in ihrem Haus und sich die letzte Lebenszeit mit Bau-Stress versauen. Außerdem wäre sie ohnehin dauernd unterwegs oder im Garten, eine aufwändige Renovierung wäre Geldverschwendung. Möglicherweise hatte sie damit sogar Recht. Der äußerliche Eindruck des Hauses war verlebt, der innere Zustand spiegelte dieses Bild auf bedrückende Weise wieder. Unten hatte das Haus ein geräumiges Wohnzimmer mit einem großen Ofen, einem Bad und eine kleine, schmale Küche. Eine alte, steile Holztreppe mit ungleichen Stufen führte in das obere Geschoss mit vier kleinen Stuben. Im Schlafzimmer von Oma Liesel gab es einen Kohleofen, ansonsten waren die oberen Zimmer nicht zu heizen, daran konnte sich Alexandra erinnern. Betreten konnte sie die drei anderen Räume nicht. Sie waren bis zur Tür vollgestellt mit Säcken, Kisten und Kartons. Insgesamt hatte das Haus etwa hundert Quadratmeter, auf zwei Etagen verteilt, einen Keller und einen Dachboden.
Das Bad war in einem fürchterlichen Zustand. Die gelblichen Kacheln waren abgeplatzt oder gesprungen, die Armaturen kaputt, das warme Wasser kam aus einem Boiler, der seine besten Tage schon lange hinter sich hatte und die Badewanne rostete vor sich hin. Immerhin funktionierte die Toilette, wie Alexandra dankbar feststellte. In der schmalen Küche gab es kaum Licht, weder von außen, da direkt vor dem Küchenfenster eine riesige Fichte stand, deren dicke Äste bei Wind am Fenster klopften, noch von innen. An der Decke hing eine verblichene Tütenlampe aus den fünfziger Jahren, die ein diffuses Licht verstrahlte. Alexandra vermutete, dass sie mal grün war. Neben der Spüle aus Emaille stand der Herd – ein Monstrum aus den letzten Jahren vor dem Mauerbau. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein altes Büfett mit Geschirr und Töpfen. Der Boden war uneben und mit zerschlissenem braunen PVC belegt. Das ganze Haus hatte einen vergilbten Anschein und der vermoderte Geruch nach altem Gemäuer und altem Mensch nahm einem den Atem.
Alexandra konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, dieses Haus war renovierungsbedürftig. Sehr renovierungsbedürftig. Sie wusste nur noch nicht, ob es wirklich möglich wäre, dieses Haus in einen modernen Zustand zu versetzen, oder ob es einfach nur reif für die Abrissbirne war. Das Schlafzimmer hatte sie drei Tage gelüftet und sich dort vorübergehend eingerichtet. Caro, die drei Häuser weiter wohnte, hatte ihr angeboten, bei
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