Rheingau-Roulette
ihr zu wohnen. Aber Alexandra hatte es abgelehnt. Drei kleine Kinder, einen Hund und einen Ehemann, der im Keller mit zwei Angestellten arbeitete und Ruhe brauchte, das wollte sie sich nicht antun. Außerdem hätte sie sich das Zimmer mit der ältesten Tochter von Caro teilen müssen. Oder Natascha aus ihrem Reich vertreiben müssen. Das hätte ihr Natz, wie sie gerufen wurde, nicht verziehen. Dann doch lieber den Geruch von Oma Liesel.
Sie warf das letzte gerupfte Unkrautbündel auf den Berg, der sich neben ihr angesammelt hatte und ging zur Tür. Der Schlüssel steckte von außen. Alexandra schob die schwere Haustür auf und legte einen Keil unter, damit Luft ins Haus kam. Sie holte sich aus der Küche einen Apfel, setzte sich auf die Treppe vor der Tür und lehnte sich müde an die Wand. Die Häuser standen hier wie in einem lichten Wäldchen, zwischen Bäumen versteckt, die gerade ihre frischen Blätter der Sonne entgegenstreckten. Der Ort war ruhig. Sehr ruhig. Man konnte kaum glauben, dass es nur eine halbe Stunde bis nach Berlin war. Die ungünstige Anbindung des öffentlichen Nahverkehrs und die schmale Bundesstraße, die viel Schwerverkehr fassen musste, hatten bisher verhindert, dass sich der Berliner Speckgürtel bis in dieses verschlafene Örtchen ausgedehnte. Erst in den letzten Wochen waren die ersten Pendler hier hergezogen und jetzt begannen die größeren Baugesellschaften, sich nach Grundstücken umzusehen. Die Bundesstraße, die weit genug am Ortskern vorbeiführte um die Beschaulichkeit nicht zu stören, würde im Verlauf der nächsten Jahre zu einer vierspurigen Schnellstraße ausgebaut und die Immobilienpreise zogen langsam an. So betrachtet konnte sie vielleicht ihr Grundstück gut verkaufen, wenn sie noch ein bisschen wartete.
Die Luft stand. Es war viel zu warm für einen Tag im April. Alexandra warf den Apfelgrotzen auf den Unkrauthaufen neben der Tür. Dort, wo der Apfel aufschlug, flog ein Pollenwölkchen auf und eine dicke Hummel brummte empört davon. Stickiger, staubiger Dunst hing über dem Vorgarten und die Sonne war unerbittlich. Selbst das Hundegebell, das aus der Dorfmitte herüberdrang, klang müde und verschwitzt. Kinderschreie, die sich mit dem Geräusch von platschendem Wasser und quietschenden Spielgeräten zu einem steten Lärmpegel wie ein Geräuschteppich verbanden, tönten durch die warme Luft. Schluss für heute, beschloss Alexandra. Stöhnend stand sie auf, um die letzten Gartengeräte aufzuräumen und die Gartenabfälle zu entsorgen.
„Hallo Letzie!“ Charlotte, Carolines jüngste Tochter stand vor dem Gartentor.
„Hallo Lotte. Na, darfst du denn allein durch die Gegend laufen?“
„Mama hat desadt, bis zu dir darf ich.“ Neugierig beugte sich Charlotte nach vorn. „Machst du?“
„Ich habe im Garten gearbeitet und jetzt räume ich auf.“
Alexandra strubbelte Charlotte liebevoll mit der Hand durch die kurzen blonden Haare. „Und dann gehe ich duschen. Da freue ich mich schon die ganze Zeit drauf.“
„Hm, tut. Wenn du sauber bist und tut riechst, tommst du zu uns. Taffee tinken.“
„Oh Lotte, das ist ja eine schöne Idee. Hat die Mama dich geschickt, um mich einzuladen?“
„Ja. Hat Mama desadt.“ Lotte nickte sehr ernst. „Mama hat desadt, da tommt ein toller Mann, den du tennen lernen musst. Tschüüüss!“
Ehe Alexandra noch irgendetwas sagen konnte, war die Kleine verschwunden. Na prima. Einen Mann, den ich unbedingt kennen lernen muss. Was um aller Welt ist ihrer Cousine da eingefallen. Entnervt warf sie alle Geräte in einen Korb und ging ins Haus. Nach der grellen Sonne draußen erschien das Haus noch dunkler und enger. „Verdammt“, schimpfte Alexandra laut, als sie auf dem Weg zum Badezimmer an eine Kommode im Flur stieß. „Dein letztes Stündlein hat auch bald geschlagen. Der Sperrmüll ist schon bestellt!“ Es war nicht das erste Mal, dass sie sich an diesem hässlichen Schränkchen einen blauen Fleck holte. Wütend rieb sie sich den Oberschenkel und rauschte in ihr Badezimmer, dessen Ausstattung ihr die Tränen in die Augen trieb. Genervt betrachtete sie den Boiler, ohne den sie kein warmes Wasser zum Duschen bekommen würde, und raunzte ihn an: „Ich trau dir nicht!“ Sie hatte ihre ersten Duscherfahrungen in Oma Liesels Badewanne mit Verbrühungen an den Füßen bezahlt. Seither hatte sie es sich angewöhnt, erst unter die Dusche zu steigen, wenn sie ganz sicher war, dass die Temperatur konstant auf ihrer eingestellten
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