Rheingau-Roulette
Es kennt mich hier keiner und keiner hat einen Grund mir das anzutun.“
Er schüttelte grimmig den Kopf. „Und welchen Grund sollte ich haben?“ Seine Stimme wurde ebenfalls lauter. „Aus welchem Grund sollte ich so etwas Bescheuertes machen?“
„Aus dem gleichen Grund, wie du meine Praxis sabotierst.“
„Hör auf Alexandra. Du leidest ja unter Verfolgungswahn.“ Seine Stimme hatte ihre geduldige Tonlage verloren und seine Gelassenheit war endgültig einer angespannt wachsamen Haltung gewichen. „Was soll ich dir dazu noch sagen, außer, dass ich dir sicher keine Ratten, egal ob tot oder lebendig, vor die Tür lege? Dass ich Besseres zu tun habe, als deine Praxis zu sabotieren?“ Er war noch einen Schritt auf sie zugegangen und stand massiv und dicht vor ihr. „Was soll also dieses Gekeife? Was willst du von mir?“ Er zog an einer ihrer widerspenstigen Locken, die sie ihm mit einer unwilligen Kopfdrehung entzog. Seine Stimmung änderte sich plötzlich. Er lachte spöttisch. „Oder ist es das?“ Er sah sie belustigt an. „Du willst etwas von mir?“
Es war ein Reflex. Ihm eine reinhauen. Alexandra hatte die Hand zur Faust geballt und wollte ihn boxen. Vor Wut. Vor Enttäuschung. Die Frustration kanalisieren. In den Magen. In seinen Magen. Dahin, wo es ihm wehtut.
Sein Griff um ihr Handgelenk war schmerzhaft und seine Reflexe besser als ihre. Er fasste sie hart an den Armen. Die blauen Augen, die sie ansahen, waren fast schwarz, seine Stimme scharf und schneidend, wie Eiskristall. Er flüsterte ihr ins Ohr: „Tu es nicht.“ Er machte eine kleine Pause. „Denk gar nicht erst dran. Ich bin größer, stärker und schneller als du.“
Sie sah ihn nachdenklich an. Ihre Rage war urplötzlich einer inneren starren Gespanntheit gewichen. Wie die Windstille im Auge des Orkans. Irgendetwas passierte in ihr und entzog sich ihrer rationalen Kontrolle. Mit rauer, aber sanfter Stimme sagte sie: „Du bist vielleicht größer, stärker und schneller als ich. Aber wenn du mich nicht sofort loslässt, dann hast du gleich keine Eier mehr!“
Mit ebenso hartem Griff, wie er ihre Arme gefasst hielt, griff sie um seine Hoden. Sie sahen sich wortlos an, beide aufgebracht, hitzig und offensichtlich unfähig, die Situation friedlich zu lösen. Alexandra fühlte sich wie in einem engen Schlauch, ihre Wahrnehmung verengte sich zusehends auf einen winzigen hellen Punkt am Ende des Kanals. Eine Flucht zur Seite war unmöglich, eine Rückkehr ebenso. Nur vorwärts ging es. Die hervortretende Stille dieses Momentes wurde von lautem Donnergrollen unterbrochen.
Hannes machte ein kleines Geräusch, einen undefinierbaren Laut wie „Hm“. Undefinierbar deshalb, weil nicht herauszuhören war, ob er einen Schmerz oder ein Vergnügen beschrieb.
Er grinste sie anzüglich an und sagte leise: „Das könnte mir sogar gefallen!“ Langsam ließ er seine Hände, die sie noch festhielten, sinken. Mit Blick auf ihre Hand, die noch immer an seinen Hoden lag, sagte er spöttisch: „Du kannst übrigens loslassen. Es sei denn, dein erotisches Interesse an mir wäre geweckt!“
Wortlos, die Wangen glutrot und die Haare wie eine elektrisierte Aura um ihr Gesicht abstehend, drehte sich Alexandra um und verließ die Gartenecke, die in den letzten Minuten ihres immer lauter werdenden Streites mehrere Besucher hatte, die ihren Zoff amüsiert beobachteten. Sie beachtete die Gaffer nicht weiter, die ihr im Vorbeigehen feixend zuriefen: „Die Wetten standen zu deinen Gunsten.“
Sie reagierte nicht auf Caros Rufe oder ihre Versuche, sie aufzuhalten. Ihr Bedürfnis nach Bewegung, unbeobachteter Bewegung war zu groß, um es im Garten abzureagieren. Fröstelnd griff sie nach ihrer kleinen Handtasche und rannte aus dem Hof auf die Straße. Dunkle Punkte überall auf dem Teer. Regentropfen, die mit kleinem platschendem Klang auf den Boden auftrafen.
Die Straßen waren trotz der späten Uhrzeit noch hell beleuchtet. Zu hell für ihren derzeitigen Zustand. Das machte ihr die Entscheidung leichter. Sie wählte den schmalen unbefestigten Weg durch ein kleines Stückchen unbewohnten Brachlandes. Die enge Straße war unbeleuchtet und von Bäumen gesäumt, deren Äste im Wind heftig aneinander rieben. Mit jedem Schritt in diese Richtung wurde das Rauschen der Bäume lauter. Durch ein paar Büsche vom Weg getrennt verlief die Bahntrasse, nur zaghaft von ein paar alten Lampen erhellt, deren bescheidenes Licht den Weg in ein diffuses Grau tauchte.
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