Rheingau-Roulette
Alexandra lief hastig durch den Regen, der mittlerweile in dicken Tropfen fiel.
Sie hatte eine Grenze überschritten, das war ihr bewusst. Sie hatte ihn angefasst. Intim angefasst. Sie schüttelte fassungslos über sich selbst den Kopf. Was war da nur in sie gefahren. Ihre Gedanken sprangen hin und her, ähnlich wie ihre Füße, die in den schmalen Sandaletten versuchten, die Pfützen zu umgehen, die sich auf der ausgetrockneten Straße bildeten und die die vom Himmel strömenden Wassermengen nicht aufnehmen konnten. Sie hörte das Auto nicht. Erst als es neben ihr anhielt und die Fensterscheibe geöffnet wurde, bemerkte sie die Bewegung und drehte sich um. Hannes.
„Steig ein!“
Alexandra wandte sich ab und ging unbeeindruckt durch den Regen weiter. Alles, aber nicht zu diesem Blödmann ins Auto steigen. Hannes fuhr genauso unbeeindruckt langsam neben ihr her.
„Alexandra, steig ein. Ich fahr dich nach Hause. Es regnet.“
Sie drehte sich zu ihm um und fauchte ihn an.
„Ist mir so egal. Ich bin schon nass, falls es dir nicht aufgefallen ist.“
Sie lief weiter. Die Pfützen auf dem unbefestigten Weg breiteten sich mehr und mehr aus. Langsam wurde aus dem staubigen, trockenen Untergrund ein sämiger Matsch, der an ihren zierlichen Sandaletten klebte. Gänsehaut bedeckte ihre Arme und sie begann zu zittern. Ihre Haare hingen wirr im Gesicht und jeder Versuch, sie nach hinten wegzuschieben, scheiterte am Wind, der kräftig von hinten blies und ihre Bemühungen auf ungehinderte Sicht zunichtemachte. Krachender Donner ließ sie zusammenzucken.
Das Auto war etwa hundert Meter vorgefahren und hielt an. Hannes stieg aus und ging auf sie zu. Auf seinem hellen Hemd schmolzen die einzelnen Regentropfen schnell zu einer feuchten dunklen Fläche zusammen. Seine Stimme klang beharrlich.
„Los. Einsteigen. Es ist nass, es ist Gewitter und deine blöden Schuhe lösen sich auf. Du frierst offensichtlich und zuckst bei jedem Blitz zusammen vor Angst. Willst du die nächsten zwei Kilometer in diesem Zustand durch das Dunkel rennen?“ Er nahm sie am Arm.
Erbost schüttelte sie seine Hand ab.
„Ich fahre nicht mit dir!“ Sie schlotterte vor Kälte. Ihr Zorn über ihn war noch nicht verflogen und leuchtete genauso grell in ihrem Gesicht wie der Blitz, der die Szene taghell erleuchtete. Sie wollte nicht mit ihm reden und schon gar nicht mit ihm im Auto sitzen. Dieser Vorsatz hielt nicht lange. Genau genommen nur drei Sekunden.
Drei Sekunden, bis der dem Blitz nachfolgende Donner hart und laut durch die Luft knallte. Wie ein Schuss. Alexandra bemühte sich, ihre Angst zu verbergen. Umsonst. Ihr Zittern war zu offensichtlich. Hannes Stimme klang versöhnlich.
„Komm schon. Das Gewitter ist nah und sicher nicht ungefährlich. Komm. Ich fahre dich heim.“ Er griff erneut nach ihrem Arm und zog sie zum Auto.
Den äußeren Widerstand hatte sie unwillig aufgegeben, der innere Protest war schon längst vom letzten Donner weggefegt worden und wich widerstrebend der Dankbarkeit, dass er sie nach Hause fahren würde. Sie setzte sie sich schweigend und zitternd vor Kälte auf den Beifahrersitz.
Er fuhr durch den kleinen Waldweg bis zu ihrem Haus. Düster und heruntergekommen stand es im Garten, dessen Bäume wild im Wind rauschten. Die schäbige kleine Laterne über dem Eingang bewegte sich heftig im Wind und ihr trübes Licht warf flackernde Schatten auf die Treppe.
„Es war jemand im Haus“, sagte Alexandra. Sie war selbst überrascht, wie beklommen sich ihre Stimme anhörte.
„Woher willst du das wissen?“
„Die Lampe brennt.“
„Wahrscheinlich, weil du vergessen hast, sie auszumachen.“
„Nein. Ich habe die Sicherung für die Lampe an der Tür rausgedreht, weil sie ständig gebrannt hat.“ Ihr Blick war ununterbrochen auf das Haus gerichtet.
Hannes sah stirnrunzelnd auf das Grundstück. Sein kritischer Blick versuchte, das dichte Grün der Hecke von dem dunklen Hintergrund zu unterscheiden. Es war außer wogenden Zweigen der Bäume und wippenden Ästen verschiedener Büsche keine Bewegung erkennbar. Er beobachtete still einen Punkt neben der Treppe, aber schließlich schüttelte er den Kopf.
„Hm. Zu sehen ist nichts.“
Gerade, als sie die Hand an den Türgriff legte, um sie zu öffnen und auszusteigen, gab er Gas und fuhr los. Irritiert sah Alexandra ihn an.
„Was machst du?“
„Du kommst erst mal mit zu mir. Ich habe eine normale Dusche, die auf Knopfdruck heißes Wasser macht. Außerdem
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