Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
Vom Netzwerk:
Wald und sprang auf den alten, rissigen Felsen hinauf. Seine Augen standen offen, aber sie nahmen nicht die Sonnenstrahlen wahr, die am Anfang des Sommers durch die neuen silbrigen Blätter fielen. Er blickte auf die bewegten Linien der Kraft, die sich wie Schlangen durch die Erde wanden, in hohen Fontänen durch die Wurzeln der Bäume Schossen und in Tropfen auf das Gras und die kleinen Blumen fielen, die den Waldboden bedeckten. Der Wolf atmete langsam und ruhig, er versenkte seine Wurzeln tief in den Stein, um die pulsierende Kraft der Erde in sich aufzunehmen. Seine scharfen Ohren nahmen den Gesang bereits aus großer Entfernung wahr, aber sein Bewußtsein, das sich nach neun Tagen wölfischer Wut erst langsam wieder einstellte und noch immer bei den Gerüchen und Lauten der Wölfe verweilte, brauchte etwas länger. Dann setzte sich der Wolf auf die Hinterbeine und stellte die spitzen Ohren auf. Das Lied hatte Sigmund zum letzten Mal in Wals' Halle gehört:
    Trüb ist der Tag / am Morgen der Schlacht, 
    wild heult der Wind / stürmt durch den Wald. 
    Mit finsteren Mienen / schärfen die Krieger den Speer
    Ein graues Roß / jagt auf den Wolken dahin.
    Die helle Stimme kam ihm bekannt vor und erinnerte ihn an den einzigen Menschen, der dieses Lied so singen konnte. Aber noch beherrschte die Wolfsgestalt Sigmund, die tierische Wut, und so gab es für ihn weder Freunde noch Sippenbande. Der Wolf sprang vom Felsen und glitt als grauer Schatten durch die Büsche dem Gesang entgegen:
    Wehrhafte Krieger kämpfen / und zerstören unser Land,
    Rom mehrt seine Macht / wütet unter Freund und Feind.
    Vor Feuer und Hörnerklang flieht / das Volk in den Wald,
    Dieser blutige Morgen bringt / für uns den Sieg oder den Tod.
    Bei den letzten Worten erschien der Sänger unter den Bäumen. Die Sonne über dem jungen Grün warf dunkle und helle Flecken auf sein blondes Haar. Er trug seine Sandalen sorglos in der Hand. An den nackten Füßen klebten braune Blätter und Schlamm. Er schritt frohgemut über den bunten Teppich der ersten Sommerblüten. Der Wolf sprang knurrend aus dem Dickicht und stürzte sich mit einem großen Satz auf den Menschen. Der Junge duckte sich blitzschnell, hielt einen spitzen Dolch in der Hand und wehrte damit den Angriff ab. Die Klinge wäre tief in den Wolfshals gedrungen, aber sie konnte Sigmunds magisches Fell nicht verletzen. Wolf und Junge stürzten zur Erde, aber Sinfjotli rollte zur Seite und stand sofort wieder auf den Beinen. Er warf den nutzlosen Dolch weg und rief unerschrocken:
    »Na komm schon, wenn du mit mir kämpfen willst! Aber wenn du verlierst, werde ich dir das Fell über die Ohren ziehen!« Der Wolf kauerte sprungbereit und knurrte. Ein Rabe flog krächzend über sie hinweg, und ein Sonnenstrahl bohrte sich dem Wolf grell in die Augen. Das helle Licht durchzuckte ihn wie ein Blitz. Benommen drehte er sich um und verschwand im dichten Unterholz. Sigmund riß sich das Wolfsfell vom Leib und legte schützend die Hand auf die Augen. Das helle Grün, das Blau und Gold verwirrten ihn im ersten Augenblick, denn er war nur noch an die Grautöne gewöhnt, die er als Wolf gesehen hatte. Er kroch unter den niedrigen Büschen hervor, richtete sich auf und band sich das Wolfsfell um die Hüfte. Dann lief er in einem weiten Bogen zu der Stelle zurück, wo der Junge stand und den Dolch mit dem Falkenkopf säuberte.
    »He!« rief Sinfjotli, als Sigmund zwischen den Bäumen erschien. »Du bist bestimmt Sigmund! Deine Schwester schickt mich. Sie sagt, daß du hier im Wald auf mich wartest. Hast du den Wolf gesehen? Ich hätte ihn getötet, aber mein Dolch konnte sein Fell nicht durchbohren, und er ist feige davongelaufen, als ich mich auf ihn stürzen wollte.«
    Sigmund musterte den Jungen schnell. Er war sehr viel größer und kräftiger, als Siglinds andere Söhne es gewesen waren. Er sah ihn offen und mit leuchtenden Augen an. Nichts in seinen Zügen erinnerte an Siggeir. Sigmund wußte, daß er für ein Kind, das in der Halle eines Drichten aufgewachsen war, seltsam und erschreckend aussehen mußte. Aber Siglinds Sohn wirkte furchtlos und schien nicht zu staunen über den großen Mann mit den langen, blonden Haaren und dem struppigen Bart in dem vom Wetter gezeichneten Gesicht, der nur ein Wolfsfell trug.
    »Wie alt bist du?« fragte Sigmund verblüfft, »bestimmt...«
    Bestimmt habe ich die Winter richtig gezählt, dachte er, aber dieser Junge muß doch mindestens zehn oder elf sein.
    »Ich habe

Weitere Kostenlose Bücher