Rheingold
im Sinn, aber ihre Füße führten sie zu der Lichtung, wo ihre Brüder gestorben waren. Die Eisennägel waren verrostet. Der Stamm, an den man sie gefesselt hatte, war morsch. Pilze und wilder Lauch wuchsen hier. »Neun Jahre sind vergangen, und wir haben sie noch nicht gerächt.« Siglind flüsterte liebevoll ihre Namen: »Alfwald, Alfarik, Witrik, Wynflad, Orngrim, Odwig, Alfger, Wulfger, Bertwini.« Die Übelkeit würgte sie plötzlich. Sie beugte sich vor und schlug mit der Faust so heftig auf ihren Leib, als könne sie damit das Kind aus sich herausschlagen. »Es ist kein Wälsung, und man kann mich nicht zwingen, es zu gebären«, flüsterte sie erregt. Sie dachte an den Bauch, der neun Monate schwellen, an den ständigen Druck auf die Blase, der sie zwingen würde, immer häufiger Wasser zu lassen. Sie würde unbeholfen und schwerfällig wie Siggeirs Zuchtstuten sein, während Männer wie Stangrim stolz von der Kraft ihres Drichten sprachen, der sie geschwängert und damit wieder einmal die Gunst der Götter unter Beweis gestellt hatte. Siglind wußte wie die meisten Frauen, daß bestimmte Kräuter das ungeborene Leben entfernen konnten, noch ehe der Mann etwas von der Schwangerschaft ahnte. Dieser Gedanke war ihr noch kaum ins Bewußtsein gedrungen, als ihr Blick sich auf die Erde richtete und sie die Blätter und Blüten im hohen Gras aufmerksam musterte. Es dauerte eine Weile, bis Siglind die Kräuter fand, die sie suchte - Kräuter, die zu Krampten führten und das Ungeborene abstießen. Sie wollte es versuchen. Mit vollen Händen erreichte sie nach einer Weile einen schattigen Platz, wo sie die dunkelvioletten Blüten der Tollkirsche sah - die dunklen süßen Beeren konnten je nach Dosierung Schlaf, Wahnsinn oder den Tod bringen. Beeren gab es zu dieser Jahreszeit noch nicht. Siglind bückte sich und zog die jungen Schößlinge der Tollkirsche vorsichtig aus der Erde. Das Gift war in den Wurzeln am stärksten, aber Siglind fürchtete sich nicht. Wenn die anderen Kräuter, die ebenfalls giftig für werdende Mütter waren, nicht wirken sollten, dann würde eine starke Dosis der Tollkirsche das Kind in ihr töten, sie aber nicht. Durch das Blut der Wölfin war sie wie ihr Bruder gegen Gift gefeit.
Siggeir war am Morgen hinunter zum Meer gegangen, um seine Schiffe für einen Raubzug vorzubereiten. Siglind wußte, an diesem Tag würde sie die Kammer für sich allein haben.
Deshalb beeilte sie sich nicht, als sie in einem kleinen Eisentopf Wasser erhitzte, um den Trank zu bereiten, der sie von der unerwünschten Last befreien sollte. Seine gallige Bitterkeit blieb als Nachgeschmack in ihrem Mund, und sie mußte husten und spucken. Sie vergewisserte sich, daß der Nachttopf griffbereit war, ehe sie sich auf das Lager legte und hoffte, daß die Kräuter ihr Werk taten.
Eine Nacht verging, und als am nächsten Morgen nichts geschehen war, wartete Siglind, bis Siggeir wieder zu seinen Schiffen ging. Dann holte sie drei Wurzeln der Tollkirsche aus der Truhe, in der sie versteckt lagen. Die Wurzeln waren dick und blaßbraun. An der rauhen Haut klebte noch Erde. Diese drei Wurzeln genügten, um ein halbes Heer zu vergiften. Siglind zerkaute sie schnell mit angehaltenem Atem und schluckte den Brei mit klarem Wasser aus dem Trinkhorn hinunter. Ihr Mund wurde sofort gefühllos, und sie fragte sich, ob es klug gewesen war. Vielleicht galt der Schutz des Eruliers nur für Sigmund. Aber sie war eine Wälsung und würde immer dieselbe Prüfung auf sich nehmen wie ihr Sohn.
Die Wände verschwammen vor ihren Augen, Funken in allen Regenbogenfarben tanzten auf dem rauhen Holz. Siglind wurde schwindlig, als habe sie zuviel Met getrunken. Schnell zog sie die dicke Wolldecke über sich und blieb ruhig liegen. Sie schlief nicht, aber sie sah
Sigmund und Sinfjotli zusammen unter einem Laubdach sitzen. Ein Speer lehnte an einem Baumstamm. Sigmund redete und zeichnete etwas mit einem Stock auf die Erde... sie ging näher heran und konnte ihn hören. Sinfjotli beugte sich vor und blickte auf die Rune, die Sigmund gezeichnet hatte. »Was ist das, und was geschieht dadurch?« fragte er aufgeregt. Sigmund lachte und fuhr ihm durch die blonden Haare. »Du wirst es so wie ich lernen... zuerst die Form, dann der Name und erst zum Schluß die Wirkung.« Er zeichnete andere Runen in der Reihenfolge ihrer Zusammengehörigkeit, so daß die vierundzwanzig Runen drei Reihen zu jeweils acht bildeten. Dann intonierte er sie leise und deutete
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