Rheingold
als Siglind wieder zu sich kam. Nichts war geschehen, keine Krämpfe deuteten auf den erwünschten Erfolg hin, und sie glaubte zu spüren, wie das Ungeborene in ihr wuchs -namenlos, ungeformt, aber lebendig mit der keimenden Kraft des Samens, der das Ei befruchtet hatte. Entweder hatte ihr Körper das Gift abgewehrt, oder ein Zauber sorgte dafür, daß es in ihr blieb. Was auch der Grund sein mochte, nun gab es nur noch einen Menschen, bei dem sie Rat suchen konnte. Siglind freute sich nicht auf ein Wiedersehen mit der Seherin und noch weniger darauf, ihr zu sagen, was sie wollte, aber ihr blieb kein anderer Ausweg.
Freydis stand in der Sonne und bürstete die dunkelbraune Stute. Sie redete leise mit dem Pferd und hob den Kopf nicht, als Siglind zum Zaun ritt, sondern sagte nur: »Komm herein.«
Siglind saß ab und schlang die Zügel um die Zaunpfosten. Ihre Fußsohlen prickelten, als sie Freydis' Reich betrat. Das Prickeln stieg ihr den Rücken hinauf bis zum Kopf. Sie hatte das Gefühl, etwas Unsichtbares stelle sich ihr in den Weg und versuche, sie in die Flucht zu jagen, aber sie kämpfte sich vorwärts, als stemme sie sich gegen einen heftigen Wind.
Freydis nahm Siglind bei der Hand und führte sie wie ein Kind in das Haus. Als die Tür sich hinter ihnen schloß, sah die Seherin sie zum ersten Mal an. Ihre Augen glühten in der dämmrigen Hütte wie geschmolzenes Gold. Der dumpfe Geruch von kaltem Rauch und Kräutern verschlug Siglind den Atem. »Was ist?« fragte Freydis.
»Ich möchte das Kind loswerden, das ich in mir trage«, antwortete Siglind heftig, und trotz des bitteren Geschmacks im Mund fühlte sie sich erleichtert, als habe sie die giftigen Wurzeln erbrochen, und ihr Magen sei endlich leicht und leer. »Du weißt sehr wohl, wie das geschehen kann.«
»Ich habe es versucht, und es hat nicht geholfen.« Unter dem bohrenden Blick der Seherin stieg Siglind die Röte ins Gesicht. Dann berichtete sie Freydis stockend, was sie alles getan hatte. Freydis wiegte den Kopf langsam vor und zurück, als lausche sie einer Musik, die Siglind nicht hören konnte. »Man muß kaum eine Seherin sein, um zu begreifen, was der Grund dafür ist. Als Frau eines Bauern oder Kriegers könntest du das Kind ohne weiteres verlieren, denn keine Frau darf zu einer Geburt gezwungen werden, wenn ihr Herz sich dagegen wehrt. Aber du bist die Frowe von Siggeir, dem Ingling. Dein Bruder lebt zwar im Wald, aber Siggeir hat sein Glück noch nicht vertan. Ingwi-Freyjar hat sich nicht von ihm abgewandt. Wenn ich dir meine Kraft schenke, könnten wir das Kind in dir töten. Aber dann würde das Land veröden und verarmen, und Siggeir wäre bald nicht mehr der Drichten. Doch ich darf das Urteil nicht fällen, solange die Götter ihm die Herrschaft lassen. Vielleicht wird Sigmund schließlich Siggeir bezwingen, ihn töten oder seine Macht brechen. Dann wird sich vieles ändern. Vielleicht wird aber auch Siggeir deinen Bruder besiegen und deinen Sohn. Dann wird er lange leben und mit größerem Glück gesegnet sein als je ein Drichten vor ihm. Die Götter warten und prüfen, wer sich als der Würdigste erweist.«
»Was kann ich tun?«
»An deiner Stelle würde ich den Schwur halten, Siggeirs Kinder bekommen und abwarten.« Freydis' Worte klangen fest wie der Stein, an dem keine Erde mehr ist, und Siglind schwieg. Schließlich fragte Siglind mutig: »Was schulde ich dir für diesen Rat?«
»Nichts. Ich nehme nur dann Lohn, wenn ich helfen kann. Reite schnell zurück. Man hat die Toten gefunden, und Siggeir ist in großer Sorge um dich.«
Die Dämmerung brach an, als Siglind ihr Pferd auf die Koppel führte. Sie hörte Schritte hinter sich. Im nächsten Augenblick glaubte sie zu ersticken, als Siggeir sie hochhob und fest an sich drückte. »Wo bist du gewesen?« stieß er heftig hervor.
»Ich war bei der Seherin«, erwiderte Siglind. Sie zögerte, ihm die Nachricht zu geben, die ihm große Freude bereiten würde. »Ich bin wieder schwanger.«
»Gelobt sei Ingwi-Freyjar!« Er ließ Siglind behutsam los und lächelte sie erleichtert an. »Eine gute Nachricht an einem schwarzen Tag. Du darfst von jetzt an nicht mehr allein durch den Wald reiten.«
»Warum nicht?« fragte Siglind und gab sich so überrascht wie möglich.
»Jemand hat den Händler und seinen Knecht getötet und seinen Karren mit den für mich bestimmten Waren verbrannt. Vermutlich waren es Ausgestoßene, die sich in den Bergen verstecken. Sie haben die Waffen an sich
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