Rheingold
Sie hatte die Knie hochgezogen. Die offenen Haare fielen ihr über das Gesicht. Er setzte sich neben sie und beobachtete, wie der Himmel nachtblau wurde. »Kann ich deinen Schmerz auf irgendeine Weise lindern?« fragte er. »Ich möchte nicht mehr leben«, antwortete Brünhild, »Sigfrid hat mich verraten, und er hat auch dich verraten, denn er war der erste, der mich geliebt hat. Ich möchte nicht zwei Männer in einer Halle. Das heißt, entweder stirbt Sigfrid, du oder ich, denn er hat Gudrun
alles erzählt, und sie verhöhnt mich jetzt. Sigfrid hat bei ihr damit geprahlt, daß er mich entjungfert hat, und er hat ihr den Ring gegeben, den er mir abgenommen hat, als er in deiner Gestalt erschien und auf der Burg den Bräutigam spielte.«
»Hat er auch mit anderen darüber gesprochen?«
»Es würde mich überraschen, wenn nicht jeder in der Halle inzwischen weiß, was geschehen ist... wie er dich und mich entehrt hat.«
Gunter legte seine Hand auf ihre Hand, aber sie wich zornig vor ihm zurück. »Faß mich nicht an! Jeder weiß jetzt, daß du schwächer bist als Sigfrid, obwohl er dir an der Hochzeit die Heldenportion überlassen hat.«
»Brünhild«, murmelte Gunter, »Brünhild, ich liebe dich. Warum mußt du uns das antun?« Sie gab keine Antwort.
»Ich schwöre dir, wenn das Fest vorüber ist, werde ich Sigfrid und Gudrun wegschicken. Sie sollen nie wieder zurückkommen, solange du und ich in dieser Halle leben. Dann soll alles wieder so sein, wie es war. Wir werden vergessen und zufrieden sein.«
»Wird uns deine Mutter einen Trank des Vergessens reichen, damit es wirklich so ist?« »Brünhild, vergiß nicht, Krimhild hat dich immer wie ihre Tochter behandelt. Du solltest nicht schlecht von ihr sprechen.«
»Ich kann ihren Anblick nicht ertragen, denn ich weiß, sie hat großen Anteil an all dem Unglück.«
»Sag mir, was ich tun muß, damit du wieder glücklich wirst, meine geliebte Frau.«
Brünhild schwieg lange. Dann flüsterte sie: »Du kannst mich nie wieder glücklich machen. Du wirst dein Königreich und deinen Reichtum verlieren wie dein Leben. Ich werde zu meinem Vater zurückkehren und trauernd in seiner Halle sitzen, wenn du nicht Sigfrid tötest... und seinen Sohn. Man darf den Wölfling nicht groß werden lassen.«
Gunter stand auf und ging durch die raschelnden Blätter davon. Voll Entsetzen fragte er sich: Wie kann ich meinen Blutsbruder verraten? Mein Schwur bindet mich an Sigfrid... Aber Brünhild trägt mein Kind in ihrem Leib. Wenn sie mich verläßt, wird mein Sohn mit ihr ziehen... Ich werde das Glück ihres seltenen Lächelns nicht mehr kennen... Was würde ich nicht geben, damit sie bei mir bleibt.
Noch andere Gedanken meldeten sich dunkel und gefährlich wie die Schuppen eines zusammengerollten Drachens.
Wenn Sigfrid geht, wird er das Gold mitnehmen. Es wird nie mehr an den Rhein zurückkehren, wo es jetzt verborgen liegt... Sigfrid ist mein Blutsbruder und mein Freund... Er ist die größte Freude im Leben meiner Schwester... Ich könnte Gudruns Kind nicht töten, den Sohn meiner Schwester. Es ist ungeheuerlich, so etwas von mir zu verlangen... Über wen werden die meisten Lieder gesungen? Was habe ich getan, um mich mit dem Drachentöter messen zu können? ... Ich hatte kein Recht auf die Heldenportion. Warum überließ Sigfrid sie mir? Mußte er sich nicht gegen mich behaupten, weil er sein Heldentum schon bewiesen hatte ... Er hat Brünhilds Flammen bezwungen...
Immer mehr Gedanken wanden sich zischend und giftig in seinem Kopf und glühten mit dem unheilvollen Feuer des goldenen Eberzahns, der über seinem Herzen lag.
Wenn Sigfrid tot ist, gehört das Rheingold mir... Wie soll ich mein Königreich erhalten, wenn alle Welt weiß, daß er der größere Held ist... Wie kann ich die Ehre der Gebikungen retten, wenn man daran zweifelt, daß ich wirklich der Vater meiner Söhne bin? Gunter blickte auf die verschwommene Gestalt am Fenster, bis er in der Dunkelheit nichts mehr sah. Ich weiß, Brünhild ist immer gut zu mir gewesen... Keine Frau ist mit ihr zu vergleichen. Ich möchte lieber tot sein, als ihre Liebe zu verlieren... Wenn sie mich verläßt, ist meine Schande für alle Zeiten besiegelt. Jeder würde den Grund wissen, und dann wäre alles zerstört, was ich aufgebaut habe... Aber eine Frau, die von mir verlangt, den Sohn meiner Schwester zu töten, ist wahnsinnig genug, das eigene Kind umzubringen.
Gunter lief durch die dunklen Straßen von Worms, bis er vor
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