Rheingold
Hagens Haus stand. Als er diesmal klopfte, öffnete sein Bruder mit einer Fackel in der Hand.
»Sigfrid hat mit Brünhild gesprochen, aber es hat keine Aussöhnung gegeben«, erklärte Hagen, »komm herein.«
Hagen führte Gunter in sein kleines, einfaches Schlafzimmer und schloß hinter ihm die Tür. »Costbera ist in der Halle, um Gudrun zu helfen, Nibel und Sigmund ins Bett zu bringen. Unsere Magd hat mit den anderen Kinder zu tun. Sie wird uns nicht stören. Setz dich und sag mir, was du vorhast.«
»Ich stehe vor einer schweren Entscheidung«, sagte Gunter und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle. »Sigfrid hat seinen Schwur gebrochen, und ich muß ihn töten.«
»Es wäre nicht recht, wenn wir unsere Eide brechen. Er ist außerdem eine große Hilfe für uns. Kein König kann uns gefährlich werden, solange Sigfrid lebt. In den letzten drei Jahren hat er unsere Ostgrenze vor den Hunnen geschützt. Glaube mir, niemand weiß besser als ich, was geschehen würde, wenn nicht ein Held wie Sigfrid unser Verbündeter wäre.«
»Rodger hält das Land im Osten von Sigfrid.« »Aber Sigfrid hat dafür gesorgt, daß Attila ihn nicht überrennen konnte. Wir werden nie wieder einen Mann wie ihn in unserer Familie haben. Denk nur daran, wie gut es sein wird, wenn seine Söhne zu uns kommen und in unseren Reihen kämpfen.« Er schwieg. Dann fuhr er leise fort: »Aber ich weiß wohl, woher das Unheil kommt. Brünhild hat es geweckt und ihr wird es schließlich zu verdanken sein, wenn wir alle in Unehre den Tod finden.«
»Aber Sigfrid muß sterben oder unsere Sippe wird auf immer in Schimpf und Schande leben müssen.« Er lachte bitter. »Und das nur, weil Sigfrid nicht geschwiegen hat und Gudrun so stolz auf ihren Mann ist.«
»Ich glaube, deine Absicht ist nicht gut. Selbst wenn es gelingen sollte, Sigfrid zu töten, dann werden wir für einen solchen Mann viel Wergeld zahlen.«
Gunter beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Schenkel und den Kopf auf die Hände. »Sigfrid muß sterben, oder ich. Ich kann nicht mit der Schande weiterleben. Er hat meine Frau entjungfert und mich getäuscht. Er hat seinen Eid gebrochen und ihren Ring an sich genommen.«
»Das ist Andvaris Ring. Schon andere haben für diesen Ring alles verraten und sind für das Rheingold gestorben... auch Regin, der Schmied.«
»Hagen, was bedeutet dir die Ehre unserer Familie?«
»Das mußt du mich nicht fragen.«
»Was bedeutet dir mein Leben?«
Hagen sah ihn schweigend an.
»Wenn du mir nicht dabei hilfst«, sagte der König langsam zu seinem Bruder, »dann werde ich allein gegen Sigfrid kämpfen, und nur einer von uns wird überleben.«
»Glaubst du, Sigfrid wird dich töten? Warum sollte er das? Du kannst ihn nicht einmal verletzen!«
Gunter hatte das vergessen. Verwirrt fragte er: »Aber was können wir dann tun?«
»Wir werden Brünhild fragen. Es ist ihr Wunsch. Niemand weiß besser als sie, wie Sigfrid getötet werden kann.«
*
Brünhild saß noch immer am Fenster, als Gunter und Hagen in den Garten kamen. Ihre Augen waren in dem bleichen Mondlicht so dunkel wie schwarze Höhlen. Gunter wich erschrocken einen Schritt zurück, als sie den Kopf hob und ihn ansah. »Was wollt ihr?« fragte sie mit heiserer Stimme. »Wir sind gekommen...«
Gunter brachte es nicht über sich weiterzusprechen. Mit Hagen konnte er über alles reden, denn sein Bruder beriet ihn und behielt alle Geheimnisse für sich. Aber er wußte, wenn er jetzt die Worte aussprach, dann würden sie wie Runen in Stein gemeißelt sein, und er hätte nicht mehr die Kraft, sie auszulöschen.
»Wie kann man Sigfrid töten?« fragte Hagen. Trotz der Ruhe, mit der Hagen diese Frage stellte, glaubte Gunter die Erde erbebe unter seinen Füßen.
Brünhild sprach, und ihre Worte klangen wie das Brausen eines Sturms im Winter, der die dürren Blätter vor sich hertreibt. »Auf Sigfrids Rücken ist unter dem linken Schulterblatt ein Zeichen in der Form eines Lindenblatts. Ein Lindenblatt fiel auf seinen Rücken, bevor er in dem Drachenblut badete. Deshalb ist er an dieser Stelle verwundbar. Wenn ein Speer diese Stelle trifft, dann wird er wie jeder andere Mensch sterben. Ich weiß es, denn ich war Wotans Seherin und Sigfrids erste Liebe.«
»Wir danken dir«, sagte Hagen. Er drehte sich um und ging davon, ohne sich noch einmal umzuwenden. Gunter folgte ihm. Als sie wieder auf der Straße standen, blieb Hagen stehen. »Geh zurück. Du mußt jetzt schlafen. Morgen
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