Rheingold
Gesicht des jungen Mädchens zu sehen, das er geheiratet hatte. Sie war vor ihm zurückgewichen. Mit größter Überwindung hatte sie seine Gegenwart ertragen. Jetzt sagte sie leise: »Bevor ich Christin wurde, habe ich viel von dem Wissen der Alten gelernt. Die Runen, die ich heute abend gesehen habe, sagen mir deutlich, daß Gudrun euch mitteilt, daß ihr sterben werdet. Möglicherweise hat jemand versucht, sie zu verändern, nachdem Gudrun sie geschrieben hatte.«
Hagen blickte auf den dunkelrot leuchtenden Stein an seinem Finger. Auch er schien plötzlich den warnenden Dorn zu sehen und nicht die Rune der Freude, zu der man sie nachträglich verändert hatte. Costberas Stimme zitterte, als sie sagte: »Jetzt werde ich dir meine Träume erzählen. Ich habe geträumt, ein reißender Fluß überflute die Halle und bringe die beiden alten Säulen neben dem Kamin zu Fall.«
»Man muß nicht immer das Schlimmste befürchten«, erwiderte Hagen, »vielleicht begrüßt uns Attila wirklich als Freunde.«
»Aus seiner Einladung spricht etwas anderes. Ich habe geträumt, wie ein zweiter Fluß alle Bänke in der Halle forttrug und dir und
deinem Bruder die Beine gebrochen hat. Das ist ein warnendes Zeichen.«
»Wo du einen Fluß siehst, sind jetzt fruchtbare Felder. Behaupte nicht, deine Träume bedeuten Unheil, wenn du nicht möchtest, daß sie Wirklichkeit werden.«
»Ich habe geträumt, daß dein Bett brennt und die Halle in Flammen steht.«
»Unsere Mäntel hängen über dem Feuer. Wir müssen sie entfernen, bevor wir schlafen gehen.«
»Ich habe im Traum einen weißen Bären gesehen. Er kam in die Halle, zerfetzte den Sitz des Königs und biß uns alle ins Genick, so daß wir gelähmt waren.«
»Es wird noch ein Schneesturm aus dem Norden kommen«, sagte Hagen, »der weiße Bär war der Sturm.«
Costberas Lippen zitterten, als sie Hagen ansah. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Ein Adler erschien und flog in die Halle. Er bespritzte uns alle mit seinem Blut. Das ist eine Warnung, denn im Traum dachte ich, König Attila schickt diesen Adler.«
Hagen dachte an den Adlerkopf aus Bernstein, den Attila als Schmuck auf der Schwertscheide trug. Auch hatte er nicht vergessen, daß er in Attilas dunklem Gesicht schon immer glaubte, den scharfen Schnabel und die wachsamen Augen eines Adlers zu sehen. Er zweifelte nicht daran, daß Costberas Träume Zeichen waren, die ihnen Unheil verhießen. Trotzdem erwiderte er: »Wir schlachten viele Tiere und
erlegen Wild auf der Jagd. Träume von einem Adler haben etwas mit Rindern zu tun. Das heißt, Attila ist uns wohlgesonnen. Ich rechne nicht mit Verrat.«
»Hagen, es wäre besser, ihr würdet hierbleiben. Wartet bis zum Frühjahr. Und wenn ihr Gudrun sehen wollt, dann ladet sie zu uns ein.«
»Warum sagst du das? Ich habe oft gedacht, du würdest an einem anderen Ort glücklicher sein.«
»Ich weiß, du hast mir nie etwas Böses gewünscht, und ich wünsche es dir auch nicht. Aber wenn du gehen mußt, dann laß wenigstens unsere Söhne dich nicht begleiten. Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es. Ich wollte sie nicht mitnehmen, obwohl sie jetzt in dem richtigen Alter sind. Aber Nibel hat eine Aufgabe zu erfüllen und muß hierbleiben.«
»Was ist das für eine Aufgabe?«
»Das geht nur uns beide etwas an.«
»Gut.«
Hagen sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Costbera erhob sich. Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde ihn umarmen, aber sie sagte nur: »Bitte weck mich, bevor du aufbrichst.«
»Gut.«
Nibel kam in den Raum, nachdem seine Mutter gegangen war, und Hagen wußte, daß er gelauscht hatte.
»Was ist das für eine Aufgabe?« fragte er seinen Vater. »Warum muß ich hierbleiben? Soll ich auf die Frauen aufpassen, während du in den Kampf ziehst?«
»Es gibt noch etwas, auf das du aufpassen mußt. Und ich vertraue nur dir.«
»Was?«
»Komm mit.«
Hagen lief mit seinem Sohn durch die dunklen Straßen. Sie gingen am Rheinufer entlang. Hagen hielt die Hand mit dem Ring unter dem dicken Mantel, aber er wußte, die Wesen in der Tiefe des Wassers sahen, daß Andvaris Ring zum Rhein zurückgekehrt war. Er hörte das unruhige Murmeln der Stimmen des Wassers. Er ging sehr vorsichtig durch den Schnee, um nicht auf vereisten Stellen zu stürzen. Würde er ins Wasser fallen, dann wäre es um ihn geschehen. Schnee lag auf den drei großen Steinen, hinter denen sich die Geheimtür zu der unterirdischen Felsenkammer befand. Hagen kam so oft
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