Rheingrund
Frühling nicht erlebt und wäre an der Seite eines ausgestopften Bären zu Tode gekommen. Zuvor hatte Lutz eisern zu ihr gehalten, solange Arthur unauffindbar war, und selbst dann nicht an ihr gezweifelt, als sie in den Verdacht geriet, darin verwickelt zu sein. Alle Ungereimtheiten und Beschuldigungen hatten seine wohlwollende Zuneigung nicht schwächen können.
»Nichts von Bedeutung!« Sie deckte das unwillkommene Schreiben mit der Werbung zu.
Lutz drehte den Kaffeebecher in den Händen. »Ruth meint, es habe sich etwas Neues ergeben. Vielleicht eine Spur.«
»Ich werde mit ihr reden.«
Der Gast erhob sich. Vor der Tür wandte er sich um. Zögernd sagte er: »Hast du dich entschieden, was mit der Wohnung geschehen soll?«
Sie vermutete, er hatte die Frage vor sich hergeschoben, weil er wusste, dass er damit einen wunden Punkt ansprach. Ihr letzter Versuch, die Wohnung in der Taunusstraße auszuräumen, in der sie einst gemeinsam mit Arthur gelebt hatte, war nach dem Durchsehen der ersten Schubladen gescheitert. Lutz hatte kurz überlegt, selbst dort einzuziehen. Die Wohnung wäre ein bequemeres Domizil als die Villa Tann im Nerotal, die er allein bewohnte. Andererseits mochte er sein Elternhaus noch nicht aufgeben. Abgesehen davon, würde sein Umzug Norma nicht davor bewahren, die Wohnung zu räumen.
»Warum ziehst du nicht selbst dort ein?«, fragte er. »Nichts gegen dein Nest unterm Dach, aber in der Taunusstraße hättest du allen Komfort. Und der Platz reicht allemal für ein schönes Büro.«
»Ich vermisse keinen Komfort, und dieses Büro genügt mir. Gibst du mir die Adresse von Ruth Diephoff?«
Er lachte. »Hätte ich beinahe vergessen.«
Er überreichte ihr eine Visitenkarte und verabschiedete sich.
Ruth Diephoff betrieb eine Yogaschule in ihrem Wohnhaus. Norma betrachtete die Karte neugierig. Anschließend warf sie die Werbebriefe in den Papierkorb und versenkte den beunruhigenden Umschlag mit spitzen Fingern in der unteren Schublade.
2
Mittwoch, der 9. April
Am darauffolgenden Morgen stattete Norma ihrer früheren Arbeitsstätte einen Besuch ab. Das Kommissariat lag auf halber Strecke zwischen dem Stadtteil Biebrich am Rheinufer und der Wiesbadener Innenstadt an einer viel befahrenen Straße.
Irene Maibaum, die allseits geschätzte Sekretärin der Abteilung, war allein im Büro und zeigte sich erfreut. Zugleich regte sich ein berechtigtes Misstrauen. »Was willst du, Norma?«
Norma strahlte sie an. »Dich wiedersehen! Du warst meine liebste Kollegin. Wie geht es dir?«
Irene zeigte auf den Eingang. »Schließe besser die Tür! Sonst kommen womöglich Dirk und Luigi hereinspaziert.« Sie seufzte. »Nun sag schon: Name? Fall?«
»Wie kommst du darauf?«
Es folgte ein zweiter Seufzer mit deutlicher Ergebenheit. »Weil du nur hier hereinschneist, wenn du etwas willst! Wen schnorrst du eigentlich an, wenn ich in Pension bin?«
»Du und aufhören? Wie sollen die Kollegen ohne dich zurechtkommen?«
»Bevor ich vor Rührung in Tränen ausbreche: Welche Akte brauchst du?«
Wenig später war Norma über die Vermisstensache ›Marika Inken‹ im Bild; zumindest aus der Sicht der Kollegen, die damals ermittelten. Das Material erwies sich als wenig ergiebig, was in sich bereits als Spur zu werten war. Für Polizei und Staatsanwaltschaft blieben keine Zweifel, dass Marika Inken ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Der Ehemann Bernhard Inken schien unverdächtig, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun zu haben. Damit war die Untersuchung rasch beendet.
Der nächste Weg führte sie zu Ruth Diephoff. Norma hatte sich für ein unverbindliches Vorgespräch angemeldet. Sie freute sich auf die Fahrt in den Rheingau. Die Regentage waren überstanden. Das sonnige Frühlingswetter schien wie gemacht für einen Ausflug ins Grüne. Sie fuhr von Biebrich aus in westlicher Richtung. Hinter Schierstein verließ sie die Rheinebene und steuerte den Polo bergauf, vorbei an zart blühenden Obstbaumwiesen und bald darauf durch Martinsthal hindurch. Ruth Diephoff wohnte oberhalb des Winzerdorfs an einem steil aufragenden Hang. Das Anwesen war leicht zu finden: Ein Weingut mit dem einzigen Wohnhaus weit und breit. Knorrige Weinreben umschlangen die grob verputzten Mauern, als hätten sie sich der Aufgabe verschworen, den wuchtigen Bau zusammenzuhalten. Norma stellte den Polo neben dem Tor ab und warf durch das geschmiedete Gitter einen Blick in den Innenhof. Die Nebengebäude wirkten frisch gestrichen und
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