Rheingrund
mir die Schlangen gefallen oder nicht. Nicht entscheidend für die Schlangen, meine ich. Es kommt darauf an, sie zu achten wie jedes andere Lebewesen auch.«
Inga betrachtete sie mit erwachender Neugierde. »Das stimmt. Deshalb esse ich kein Fleisch.«
Norma lächelte. »Wie ich.«
»Ehrlich? Oder sagst du das nur so?«
»Ich war jünger als du jetzt, als ich diesen Entschluss fasste.«
Die Regenwolken verdunkelten die Hütte. Ingas Elfengesicht erschien mit einem Mal zart und verletzlich.
»Ruth will, dass du nach meiner Mutter suchst. Kannst du dir vorstellen, dass Marika am Leben ist?«
Norma erklärte geduldig, dass nach Lage der Akten und der vergangenen Zeit wenig Hoffnung bestünde. »Ich habe deiner Großmutter versprochen, es trotzdem zu versuchen.«
Inga legte die Hand auf den Umschlag. »Suchst du dabei auch nach anderen Leuten? Nach Bekannten von meiner Mutter, meine ich?«
Im Hintergrund fiepte der Hund im Schlaf.
Norma wartete, bis er still war. »Denkst du an eine bestimmte Person?«
»Bernhard hat den Namen erwähnt. Das war, als er neulich mit Ruth gestritten hat. Der Mann heißt Bieler. Kai Kristian Bieler.«
Dass sich Ingas farblose Wangen dunkel färbten, blieb Norma im Zwielicht nicht verborgen. Das Mädchen schob ihr den Umschlag zu. Der Brief war zerknittert vom mehrfachen Herausnehmen, Lesen und Zusammenfalten und übersät von Tränenflecken. Norma überflog die wenigen Zeilen. Das Schreiben war an Inga gerichtet. Ein Vaterschaftstest, Ergebnis negativ. Die DNA beider Personen schließe eine verwandtschaftliche Beziehung aus, hieß es lapidar.
Der herausfordernde Blick des Mädchens besaß nichts Kindliches mehr. »Ich habe es immer gewusst. So wie er mit mir umgegangen ist, all die Jahre. Bernhard Inken ist nicht mein Vater. Ich will meinen wirklichen Vater finden. Und das muss Kai Kristian Bieler sein!«
4
Die Sonne fiel mit verlockender Pracht durch die Jalousie und malte ein Streifenmuster auf die Schreibtischplatte. Martin Reber klimperte missmutig auf der Tastatur herum. Draußen erblühte der Frühling, und er hockte wie ein Gefangener im Büro und wartete auf die Nachricht eines Drehbuchautors, von dem er nichts hielt, anstatt mit dem Mountainbike im Rheingau unterwegs zu sein. Seine Überstunden zählte er seit Jahren nicht mehr. Zum Ausgleich nahm er sich die Freiheit, nach Lust und Laune für einen halben Tag zu verschwinden. Aber Bernhard lag an diesem Autor, und er umgarnte ihn wie eine Diva. Das angekündigte Exposé sollte von Martin umgehend und mit gebührendem Respekt begutachtet und beantwortet werden.
Martin rief ungeduldig das Postfach auf: Nur der Newsletter einer Börsenzeitschrift, auf den er jetzt keine Lust hatte. Stattdessen klickte er auf seinen persönlichen Ordner und öffnete das Tourenbuch, in dem er alle Routen in Stichworten festhielt, mit Fahrzeiten, zurückgelegten Strecken und Höhenmetern, und dazu das Wetter und mögliche Besonderheiten notierte. Auch über die geplanten Touren führte er genau Buch. Er gehörte nicht zu denen, die ins Blaue hinausradelten, und hielt sich ehrgeizig an die geplanten Strecken und veranschlagten Zeiten. Zurzeit war er meistens auf dem Rheinsteig unterwegs, seiner Lieblingsroute im Rheingau. Er ergänzte seine Berichte mit Aufnahmen der Digitalkamera: Immer wieder dieselben Motive, zu den unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten. Manchmal fotografierte er auch schlichte Dinge, die ihm auffielen; ein toter Vogel am Wegrand, eine seltsame Blüte zwischen den Sträuchern.
Als er das Album mit den neusten Bildern betrachtete, wurde die Tür aufgestoßen. Bernhard erschien mit einem Stapel Manuskripte unter dem Arm.
»Weißt du, wo Inga steckt? Das Sekretariat ist seit Stunden nicht besetzt.«
Martin wechselte mit einem Mausklick auf den Bildschirmschoner. »Sie hat sich heute Morgen bei mir krank gemeldet.«
Bernhard trat einen Schritt vor. »Wieso ruft sie nicht mich an? Als ihren Chef und Vater?«
»Was hättest du ihr gesagt?«
»Dass sie ihre Zipperlein gefälligst hier auskurieren soll. Falls sie überhaupt krank ist. Sie schleicht doch wieder durch den Wald. Auf der Suche nach Kriechtieren!«
»Wenn das deine Antwort ist, musst du dich nicht wundern, warum sie nicht dich anruft. Sondern mich.«
Bernhard winkte ab. »Spiel du nur weiter den lieben Onkel Martin! Ist das Exposé angekommen?«
Martin öffnete das Postfach. »Immer noch nichts! Eigentlich sollte ich dankbar sein. Mir wird übel von dem
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