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Rheingrund

Rheingrund

Titel: Rheingrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Kronenberg
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sich mit dem Handrücken über die Augen und fixierte Norma mit abweisender Miene.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
    »Mein Name ist Tann. Du bist Inga, nicht wahr?«
    »Sind Sie die neue Privatdetektivin? Woher weiß Ruth überhaupt, dass ich hier bin?«
    »Deine Großmutter hat mich nicht geschickt. Ehrlich gesagt, sie hat keine Ahnung, dass ich mich hier oben umsehe. Schwänzt du den Unterricht?«
    Inga stützte sich in den Türrahmen, als müsste sie die Hütte vor Norma beschützen. Die weiten Ärmel rutschten herunter und legten sehr magere Oberarme frei. »Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich arbeite.«
    Eine Spur Stolz schwang in der dünnen Stimme mit.
    »Hier?«, fragte Norma verblüfft.
    »Unsinn. In der Agentur natürlich.«
    »Bei deinem Vater also. Und heute hast du frei?«
    Ein vernichtender Blick streifte Norma. »Was geht Sie das an?«
    »Pure Neugierde. Eine Berufskrankheit. Entschuldigung, ich sollte wohl Sie sagen.«
    Ein missmutiges Einlenken: »Schon gut. Noch bin ich nicht 18.«
    »Wir können uns gern duzen. Ich heiße Norma. Lässt du mich rein?«
    Das Mädchen zögerte, nahm endlich die Hände herab und trat beiseite. Arlo nutzte die Lücke und trottete voraus. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum. Vor einem der Fenster stand ein Weinfass, das als Tisch diente. Daneben waren zwei Holzstühle aufgestellt, die einen neuen Anstrich vertragen hätten. Auf dem Fass lag ein Briefumschlag. Die linke Stirnwand war mit Regalen zugebaut, in denen lange Reihen verstaubter Weinflaschen lagerten. Davor stand ein brusthohes Rüttelpult. Die Öffnungen, die eigentlich Sektflaschen vorbehalten waren, blieben ungenutzt. Gegenüber befand sich ein Sofa mit altmodischen Rundungen, dessen Schäbigkeit nicht einmal das Zwielicht beschönigen konnte. Der Bezug war von Flecken übersät, und hier und da bohrte sich eine Sprungfeder unternehmungslustig ins Freie. Es gab ein quietschendes Geräusch, als Arlo auf das Sofa sprang und sich zwischen den Drähten wie eine Katze zusammenrollte.
    Inga setzte sich neben das Fass und deutete wortlos auf den zweiten Stuhl.
    Auch Norma nahm Platz. »Bist du oft hier?«
    Inga streckte die Hand aus und zog den Brief zu sich heran. »Manchmal.«
    »Und deine Großmutter?«
    »Ich nenne sie Ruth. Sie will das so. Ruth kommt niemals hierher. Jedenfalls nicht mehr, seit der Großvater tot ist.« Sie schob den Brief zwischen den Fingern hin und her. »Der Großvater starb ein paar Monate nach meiner Geburt. Das Gartenhaus war sein Refugium, sagt Ruth.«
    »Und jetzt ist es dein Reich.«
    Das Mädchen sah zum Fenster hinüber. Das Wetter war umgeschlagen. Draußen heulte der Wind auf und blies Regentropfen gegen die Scheibe. »Ich bin hier nur Gast. In Wahrheit gehört die Hütte den Schlangen. Hier unter dem Holzboden verbringen sie den Winter. Und im Sommer legen sie dort ihre Eier ab. Manchmal, wenn es ganz still ist, kann man hören, wie sie dort unten durch das Laub kriechen.«
    Norma hielt unwillkürlich nach Löchern in den Dielen Ausschau. In Ingas monotone Stimme kam Leben, als sie fragte, ob Norma schon einmal eine Äskulapnatter gesehen habe.
    Als Norma verneinte, lächelte das Mädchen verständnisvoll. »Man muss ihre Verstecke kennen und braucht Glück und eine Menge Geduld. Ich habe schon viele Äskulapnattern beobachtet. Sie sind wunderschön.«
    Norma hatte davon gehört, dass es in den Weinbergen des Rheingaus vereinzelte Exemplare dieser Schlangenart geben sollte, und stellte sich eine Art größere Blindschleiche vor. Ein wenig bunter vielleicht.
    Diese Vermutung löste bei Inga heftiges Unverständnis aus. »Blindschleichen sind keine Schlangen, sondern Eidechsen ohne Beine. Das weiß man doch!«
    »Meine Dummheit«, räumte Norma ein.
    »Außerdem sind die Äskulapnattern viel größer als Blindschleichen.«
    »Wie groß denn?«
    Inga breitete die Arme aus. »Wenn sie ausgewachsen sind: Anderthalb bis an die zwei Meter.«
    »Herrje!« Norma nahm sich vor, beim Gehen gut auf den Weg zu achten.
    Inga lachte. »Keine Sorge, die Schlangen haben mehr Angst als du! Außerdem sind sie ungiftig und völlig harmlos.«
    »Weshalb faszinieren dich die Schlangen?«
    Inga überlegte. »Sie stammen aus einer anderen Zeit. Sie sind frei und unabhängig. Ganz anders als zum Beispiel ein Hund. Arlo würde keinen Tag ohne Menschen aushalten. Du scheinst keine Schlangen zu mögen. Oder doch?«
    »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich glaube, es ist unwichtig, ob

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