Richard Castle
üblichen Vorgehensweise und verschwand in dem Loch. Sie ignorierte die Sprossen und rutschte an den äußeren Stäben nach unten, als wäre die Leiter eine Rutschstange in einer Feuerwache. Nikki landete in gebückter Haltung und mit der Sig Sauer schussbereit in der rechten Hand. Sie nahm die Taschenlampe, die sie zwischen die Zähne geklemmt hatte, in die andere Hand und leuchtete damit durch den Keller.
Er stand vollkommen nackt in der Mitte des abgeteilten Bereichs des Kellers und starrte sie mit abgeklärten Augen an, die gleichzeitig zu sehen und nicht zu sehen schienen. „NYPD, keine Bewegung.“ Der Verdächtige reagierte nicht. Außerdem war er bereits völlig reglos und stand still und dennoch unbedrohlich da, während hinter Nikki die Verstärkung aus Mitgliedern des SWAT-Teams herunterregnete, um sich ihr anzuschließen und ihre Waffen mit den Aufsatzlampen auf ihn zu richten. „Nicht schießen“, sagte Heat.
Sie wollte ihn so sehr tot sehen, aber sie brauchte ihn lebend.
Die Lampen enthüllten ein Meer aus Schuhen, das ihn umgab. Hunderte und aberhunderte von Schuhen: Männerschuhe und Frauenschuhe, alte und neue, Paare und einzelne – alle in ordentlichen Reihen aus konzentrischen Kreisen um die Mitte ausgerichtet, sodass die Spitzen auf ihn zeigten. „Also“, sagte er. „Sie sind wegen meiner Schuhe gekommen.“
„Wie wollen Sie genannt werden, William oder Bill?“ Nikki wartete wieder darauf, dass er sprach, und würde so lange warten, wie es nötig war. Der Verdächtige schwieg, seit sie vor zehn Minuten in Vernehmungsraum eins Platz genommen hatten. In erster Linie betrachtete er sich selbst im Beobachtungsspiegel. Hin und wieder wandte er sich ab und schaute dann wieder hin, als ob er sich überraschen wollte. Er rollte seine muskulösen Schultern, sodass sie sich gegen den orangefarbenen Stoff seines Overalls dehnten.
Schließlich fragte er: „Darf ich den behalten?“ Er schien es ernst zu meinen.
„William“, sagte sie. „Ich werde Sie mit dem Namen ansprechen, der hier in Ihrem Strafregister steht.“ Er brach den Augenkontakt ab und schaute wieder in den Spiegel. Detective Heat studierte erneut die Akte, obwohl sie die wichtigsten Fakten bereits auswendig kannte. William Wade Scott, männlicher Weißer, Alter: vierundvierzig. Im Wesentlichen ein einfacher Herumtreiber, dessen Verhaftungsakte seine Reise durch den Nordosten dokumentierte, die auf seine unehrenhafte Entlassung wegen Drogenvorwürfen nach der Operation Desert Storm im Jahr 1998 gefolgt war. Seine Vergehen bewegten sich im kleineren Rahmen, tonnenweise Ladendiebstähle und Ruhestörungsdelikte sowie ein paar Verhaftungen, die die Messlatte höher legten. Der bemerkenswerteste Fall war der Einbruch in einen Elektroladen in Providence mit anschließendem Diebstahl, der ihm drei Jahre Gefängnis eingebracht hatte. Nikki hatte Ochoa damit beauftragt, das Entlassungsdatum noch einmal mit dem Gefängnis von Rhode Island abzugleichen, denn diese Inhaftierung verschaffte ihm ein Alibi für den Mord an ihrer Mutter.
Detective Ochoa, der hinter dem Spiegel in Beobachtungskabine 1 stand, schrieb ihr eine SMS, in der er William Wade Scotts Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 2001 bestätigte – anderthalb Jahre nach dem Mord an ihrer Mutter. Sie las die Nachricht ausdruckslos, doch Rook sah, wie sich ihre Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballten, nachdem sie das Handy zurück in ihre Tasche gesteckt hatte.
Nach so vielen Rückschlägen bei den Ermittlungen im Mordfall an ihrer Mutter war Nikki gegen Verzweiflung abgehärtet, aber diese Neuigkeit traf sie trotzdem. Ihre Reaktion auf die Enttäuschung bestand jedoch wie immer aus noch größerer Entschlossenheit. Und einer Realitätsüberprüfung. Hatte sie tatsächlich geglaubt, der Mörder würde ihr am gleichen Tag in den Schoß fallen, an dem sie auf eine neue Spur gestoßen war? Verdammt, nein. Dafür war der nächste Tag da.
In der Beobachtungskabine wandte sich Rook an Raley und Ochoa. „Es ist aber nach wie vor möglich, dass er unser unbekanntes Opfer getötet hat, oder?“
„Möglich?“, erwiderte Raley. „Ja, möglich …“ Das „nicht wahrscheinlich“ blieb ungesagt. Nach der Razzia in Bayside hatten die Befragungen der Nachbarn ergeben, dass der nackte Mann im Keller nicht der Besitzer des Hauses in der Oceania Street war, sondern ein obdachloser Hausbesetzer, einer von vielen, die in nette Vorstadtgegenden in Long Island gezogen waren, nachdem
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