Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
Vom Netzwerk:
das verkörpert Walther von Stolzing, indem er die bürgerliche Enge der Meistersingerzunft durchstößt, den Horizont für eine innovative Kunst aufreißt, in der das Alte und das Neue, Bürgerlichkeit und Adelskultur, die notwendige Enge traditionell-handwerklicher Kunstübung und die Weite improvisatorischer Freiheit wahrhaft eine Ehe eingehen – wie der Ritter Walther mit dem Bürgermädchen Eva.
    »Nürnberg. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts« (GS VII, 150) ist der Schauplatz der Meistersinger , und dieser wird in mancher Hinsicht akkurat rekonstruiert: für die möglichst authentische Darstellung des Meistersangs hat Wagner intensive Quellenstudien betrieben und sogar historisierende – freilich kaum wirklich historische – Formelemente in seine Musik eingebracht, die ihm sonst ganz fernliegen. Weit wichtiger für sein Nürnberg-Bild als die Quellen aus dem 16. Jahrhundert ist der romantische Mythos der Kunststadt. Darauf hat schon Hugo von Hofmannsthal in seiner Meistersinger -Huldigung im Brief an Richard Strauss vom 1. Juli 1927 hingewiesen. »Worauf der große Reiz und die große Kraft der Meistersinger (rein als Dichtung genommen) beruhen, wodurch sich dieses Werk noch über alle anderen Werke dieses einzigartigen Mannes heraushebt«, schreibt Hofmannsthal, sei die unvergleichliche Beschwörung Nürnbergs als des Hintergrunds und der alle Handlungsfäden zusammenführenden Seele dieser Oper. Der Nürnberg-Mythos der deutschen Romantik verschmelze hier mit den von Wagner in Mein Leben »genau und unvergeßlich« erzählten eigenen Erlebnissen inklusive der nächtlichen Prügelei und des Nachtwächters, der die Ruhe wiederherstellt. »Dieses Stadtganze, wie es in den dreißiger Jahren [des 19. Jahrhunderts] noch unverderbt dastand, die deutsche bürgerliche Geistes-, Gemüts- und Lebenswelt von 1500 nicht bloß widerspiegelnd, sondern wahrhaft vergegenwärtigend, das war eines der großen entscheidenden Erlebnisse der Romantik, von Tieck, Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders mit der Dürergestalt im Hintergrund, über Arnims [Achim und Bettina] und E. T. A. Ho ff mann zu dem Vollender der Romantik Richard Wagner.«
    Zum romantischen Nürnberg-Mythos steht freilich Wagners wichtigste dramatische Quelle in merkwürdigem Widerspruch: das »dramatische Gedicht« Hans Sachs des Wiener Schriftstellers Johann Ludwig Deinhardstein aus dem Jahre 1827. Er macht sich noch ganz die herkömmliche abschätzige Sicht des Meistersangs bis in die Zeit der Aufklärung zu eigen. Aus dieser Zeit stammen die berühmten Verse, welche die Knittelversreimerei des dichtenden Schusters zum Gespött machen sollten: »Hans Sachse war ein Schuh- / Macher und Poet dazu.« Dass diese so häu fi g zitierten Verse ursprünglich als reine Spottverse gedacht waren, hat man inzwischen vergessen – vor allem seit Richard Wagner sie in den Meistersingern von Nürnberg Sachs selber in den Mund gelegt hat – als Schlussverse seines Lieds »Als Eva aus dem Paradies / von Gott dem Herrn verstoßen« (GS VII, 211 f.).
    Es ist vor allem das Verdienst Goethes, den verachteten Schuhmacher-Poeten wiederentdeckt zu haben. Er knüpfte mit seinen dramatischen Farcen und Hanswurstiaden wie dem Jahrmarktsfest zu Plundersweilern oder dem Fastnachtsspiel vom Pater Brey an Sachsens Dramentypus an und widmete seinem Andenken jene Erklärung eines alten Holzschnitts , deren Spuren bis in Wagners Meistersinger zu verfolgen sind. Dort ist es Hans Sachs selber, der auf Goethes grimmig-humoristische Verurteilung aller Verächter des Nürnberger Meisters – »In Froschpfuhl all das Volk verbannt, / Das seinen Meister je verkannt!« – anzuspielen scheint, wenn er seine Schlussansprache mit der Mahnung beginnt: »Verachtet mir die Meister nicht / und ehrt mir ihre Kunst!« (GS VII, 270)
    Wer hätte zu Beginn des 18. Jahrhunderts ahnen können, dass die als absoluter Tiefpunkt der deutschen Literaturgeschichte verhöhnte Knittelverspoesie des Nürnberger Schuhmachers am Ende des Jahrhunderts ausgerechnet das Modell der ersten Szene des Gipfelwerks der deutschen, ja der modernen Welt-Literatur bilden würde: wir reden von Goethes Faust und dem Eingangsmonolog des Titelhelden. Der von Hans Sachs übernommene Knittelvers bilde die Basis für das »ungeheuer Volkstümliche« des Faust , äußert Richard Wagner einmal in einem Gespräch mit Cosima am 13. Dezember 1878 (CT II, 276). Die Synthese des Populär-Naiven mit dem Sublimen gebe

Weitere Kostenlose Bücher