Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
habsburgischen Kaisermacht gelten die »Heil«-Rufe am Schluss (GS VII, 271). Und so knüpft der Dichter und nicht mehr der Kaiser die Fäden der Handlung zu einem glücklichen Ende.
Die Welt Nürnbergs ist in den Meistersingern im Vergleich zu ihren Vorlagen vollständig entpolitisiert. Nicht nur der Kaiser fehlt – ja die Möglichkeit, dass sich das »heil’ge röm’sche Reich« in »Dunst« auflösen könnte (GS VII, 271), zeichnet sich am Horizont ab –, sondern auch die Stadt Nürnberg erscheint auf der Bühne ohne jegliches Regiment. Das Gemeinwesen, in dem es so bürgerlich zugeht, hat geradezu anarchische Züge, die im Walten des ›Willens‹ in der Johannisnacht des zweiten Aufzugs fast zum Chaos, auf der Festwiese am Ende der Oper freilich zu einer neuen ästhetischen Harmonie führen. Nürnberg ist als Stadt der Musen dargestellt, aber diese Stadt hat praktisch keine erkennbare politische Ordnung; dass es einen Rat gibt, geht nur beiläu fi g aus einem Vers hervor, aber wir hören sonst von keinen kommunalen Organen, keiner Obrigkeit, der man untertänig wäre. Die Nürnberger leben in einer Art Naturzustand, der sich selbst reguliert, ohne dass es noch eines ›contrat social‹ bedürfte.
In der Prügelszene des zweiten Aufzugs droht zwar schon der Krieg aller gegen alle, aber die Turbulenzen der Johannisnacht können ohne das Eingreifen irgendeiner Polizei befriedet werden. Selbst der Nachtwächter, die einzige Person, die in amtlicher Funktion die Bühne betritt, erscheint erst, als der Nachtspuk schon vorbei ist, und er ist überhaupt nur da, um nach Einbruch der Dunkelheit die Uhrzeit auszurufen und an die religiöse, moralische und praktische Vernunft zu appellieren. Irgendeine Art von Zwangsgewalt gehört nicht in den Kompetenzbereich dieses humoristisch gezeichneten Moralhornisten. Wie das Gemeinwesen in Wagners Meistersingern ohne Obrigkeit auszukommen scheint, so übrigens auch die Kirche ohne Geistlichkeit. Beim »Nachmittagsgottesdienst zur Einleitung des Johannisfestes« in der Katharinenkirche sehen und hören wir zwar eine choralsingende »Gemeinde« (GS VII, 151), aber von einem Pfarrer vernehmen wir nichts. Gemeinwesen wie Gemeinde kommen anscheinend ohne Führung aus, verwalten sich selbst. Das Fehlen der Obrigkeit und eines Rates der Stadt innerhalb der dramatischen Handlung ist umso auffälliger, als beide in Wagners Quellen, im Lob der Chronisten und Reisenden des 16. Jahrhunderts und noch in der Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts, welche um die Stadtkultur des deutschen Spätmittelalters und der frühen Neuzeit kreist, eine so eminente Rolle als Inbegri ff bürgerlicher Ordnung spielen.
Neben dem Nachtwächter gibt es überhaupt nur eine einzige Amtsperson in den Meistersingern , und sie ist – abgesehen davon, dass sie nicht in amtlicher Funktion auftritt – nicht nur komisch, sondern satirisch-farcenhaft gezeichnet: der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser. Man hat den Eindruck: Nürnberg hat sich in eine Art »ästhetischen Staat« frei nach Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen verwandelt. Dieser ›Staat‹ be fi ndet sich in der Übergangsphase von einer ständischen zu einer demokratischen Ordnung, so wie sich die alte normative Poetik der Meistersinger in eine neue, freie, vom Volk unterstützte und in der schöpferischen Individualität gründende Kunstübung verwandelt, gemäß der Maxime, mit der Sachs während seiner Poetik-Lektion für Walther von Stolzing im dritten Aufzug die Frage Walthers »Wie fang’ ich nach der Regel an?« beantwortet: »Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.« (VII, 239)
Schon nach dem Fiasko von Walthers Probegesang im ersten Aufzug versuchte Sachs den anderen Meistern plausibel zu machen, dass der Gesang des Ritters nicht einfach regellos, sondern einem anderen, wenn auch noch nicht mit Bewusstsein erfassten Gesetz verp fl ichtet sei:
Des Ritters Lied und Weise,
sie fand ich neu, doch nicht verwirrt;
verließ er uns’re G’leise,
schritt er doch fest und unbeirrt.
Wollt ihr nach Regeln messen,
was nicht nach eurer Regeln Lauf,
der eig’nen Spur vergessen,
sucht davon erst die Regeln auf! (GS VII, 185)
Die Meister tun so, als ob ihre Normen ewig wären, vernachlässigen deren Genese (»Spur«), ihr geschichtliches Gewordensein. Sachs spürt deutlich, dass die Kunst der Meistersinger auf diese Weise Gefahr läuft, zu erstarren, akademisch zu werden, ihr populäres Fundament zu verlieren. Sie bedarf
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