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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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einer Wiederbelebung durch den ›Volksgeist‹. Daher sein Vorschlag, einmal im Jahr beim Preisgesang das Volk »Richter« sein zu lassen (GS VII, 174). Ein wahrhaft revolutionäres Konzept. Die Meister be fi nden gewissermaßen nur während einer einjährigen ›Legislaturperiode‹ über die Regeln, dann müssen sie diese und sich selber vor dem Volk legitimieren.
    Gesteht, ich kenn’ die Regeln gut;
und daß die Zunft die Regeln bewahr’,
bemüh ich mich selbst schon manches Jahr.
Doch einmal im Jahr fänd’ ich’s weise,
daß man die Regeln selbst probir’,
ob in der Gewohnheit trägem G’leise,
ihr’ Kraft und Leben nicht sich verlier’:
Und ob ihr der Natur
noch seid auf rechter Spur,
das sagt euch nur,
wer nichts weiß von der Tabulatur. (GS VII, 174 f.)
    Der Meistersang läuft Gefahr, zu einer dem Volk entfremdeten aristokratischen Kunst zu werden und damit das Schicksal der adligen Künste zu erleiden. Diese sind nun abgestorben. Der Ritter von Stolzing hat deshalb ja Schloss und Gut verkauft: »Was mich nach Nürnberg trieb, / war nur zur Kunst die Lieb’.« (GS VII, 166) Die Nürnberger Bürger selbst emp fi nden mit Stolz, dass ihre Kunst die ritterliche abgelöst hat. Pogner verkündet selbstbewusst, »daß wir im weiten deutschen Reich / die Kunst einzig noch p fl egen« (GS VII, 172). Nun aber ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Bürger durch ihre erstarrende Kunst zu Aristokraten, der Aristokrat aber zum Bürger wird, der die Kunst aus dem Volksgeist wiederbelebt.
    Sachsens Vorschlag, das Volk beim Preisgesang Richter sein zu lassen, wird von den Meistersingern entschieden abgelehnt, doch am Ende der Oper erreicht Sachs genau das Ziel, für das er im ersten Aufzug vergeblich bei den Meistern geworben hat. Die neue Kunst, die im und mit dem Auftritt Walthers auf der Festwiese triumphiert, ist nicht mehr von einer privilegierten Schicht, sondern vom Volk getragen: als Walther sein Preislied beendet hat, wird ihm der Sieg vom Volk selber zuerkannt: »Reich’ ihm das Reis!«, beauftragt es Eva: »Sein der Preis!« (GS VII, 269) Erst dann erheben sich die Meister – die in Wagners Kunst-Nürnberg an die Stelle der Ratsherren treten – und entscheiden, das Votum des Volks bestätigend: »Ja, holder Sänger! Nimm das Reis! / Dein Sang erwarb dir Meisterpreis.« (GS VII, 269) Damit verwirklichen die Meister genau den Reformvorschlag Hans Sachsens, den sie im ersten Aufzug noch so entschieden verworfen hatten.
    Walther von Stolzing und die Meister stehen sich gegenüber wie These und Antithese. Die dialektische Vermittlung zwischen ihnen wird erst von Sachs zugleich als Intrigenkomödie und Denkspiel inszeniert. Er macht den ›Stürmer und Dränger‹ Walther zum wahren, d. h. besonnenen Dichter, der von den Meistern akzeptiert werden kann, da er auch die Notwendigkeit handwerklicher Kunstregeln einzusehen gelernt hat. Die Genese seines Preislieds ist eine vorweggenommene Veranschaulichung der von Wagner in seinen Essays Über die Bestimmung der Oper (1871) und Über Schauspieler und Sänger (1872) entfalteten Improvisationstheorie. Das »von uns in Aussicht genommene Kunstwerk« wird im erstgenannten Essay als »durch die höchste künstlerische Besonnenheit fi xirte mimisch-musikalische Improvisation von vollendetem dichterischem Werthe« de fi niert (GS IX, 149 f.). Zu diesem Ideal besonnen fi xierter Improvisation entwickelt sich unter dem Ein fl uss von Sachs in der Schusterstube auch das Preislied Walthers. Es ist die ästhetische Utopie einer Gesangskunst, ein ›Kunstwerk der Zukunft‹ ohne Partitur und Textbuch.
    Freilich lässt sich nicht verkennen, dass dieses Preislied doch eine schriftliche Fixierung hinter sich hat. Walthers Probelied im ersten Aufzug war noch völlig freie Phantasie, der das Moment der Wagner so wichtigen ›Besonnenheit‹ fehlte. Dazu will Sachs Walther durch Verschriftlichung seiner Eingebungen verhelfen. Deshalb fordert er ihn auf, seinen Morgentraum improvisatorisch zu ›dichten‹; er selber will dann seine Eingebung › fi xieren‹: »ich schreib’s euch auf, diktirt ihr mir!« (GS VII, 238) Nur den ersten und zweiten Bar zeichnet Sachs auf, die Fortsetzung der Meisterweise wird erst später ohne Sachsens Schreibhilfe durch den Anblick Evas inspiriert. Als sich die Inspirationskraft von Walthers Morgentraum zu erschöpfen beginnt, bricht er das ›Diktat‹ impulsiv ab (»Genug der Wort’!« GS VII, 242), und Sachs akzeptiert es, da er wohl

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