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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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äußert (NW 1172). Am 28. Januar teilt Nietzsche Rohde mit: »Ich habe mit Wagner eine Alliance geschlossen. Du kannst Dir gar nicht denken, wie nah wir uns jetzt stehen und wie unsre Pläne sich berühren.« (NW 357) Goethe et Schiller redivivi! Wer hätte vorhergesehen, dass eine derart innige Allianz nur wenige Jahre später in Feindschaft und Hass umschlagen würde!
    Die Faszination durch das musikalische Drama Wagners steht am Anfang der Geburt der Tragödie. Von jenem her fällt das Licht zurück auf die griechische Tragödie, die weniger in ihrem eigenen Lichte erscheint denn als das in die Vergangenheit reprojizierte Bild des ›Kunstwerks der Zukunft‹: mit dem »Chor als Orchester« – so die von Wagner übernommene Bestimmung des Urorgans der Tragödie in einer Aufzeichnung Nietzsches vom Frühjahr 1871 (SW VII, 375), also der Deutung des Chors als antiken Pendants zum modernen Orchester – und der Szene, vor der Orchestra, die im Grunde genommen nichts anderes ist als die vom Zuschauerraum geschiedene Tiefenbühne Wagners. Die Duplizität von Szene und Orchestra (Chor) spiegelt diejenige der beiden für Nietzsche elementaren Grundtendenzen der griechischen Kultur: im Chor manifestiert sich das Dionysische als das entgrenzende, individualitätsauflösende, musikalisch-orgiastische Element, in der Szene das vom principium individuationis im Sinne Schopenhauers bestimmte, plastisch-begrenzende Element. Bereits der Aufsatz Das griechische Musikdrama (1870) nimmt die wechselseitige Spiegelung von antiker Tragödie und modernem musikalischem Drama vorweg, artikuliert die Überzeugung, dass das »Kunstwerk der Zukunft durchaus nicht etwa eine glänzende, doch täuschende Luftspiegelung ist: was wir von der Zukunft erho ff en, das war schon einmal Wirklichkeit – in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit« (NW 601). In seinem Versuch einer Selbstkritik ist Nietzsche später entschieden von dieser Identi fi zierung der Tragödie mit dem Musikdrama abgerückt; er habe sich in der Geburt der Tragödie , so seine Selbstkritik, das »grandiose griechische Problem , wie es mir aufgegangen war«, durch »Einmischung der modernsten Dinge« – sprich: der Schopenhauer-Wagnerschen Musikästhetik – verdorben (SW I, 20).
    Die Tribschener Jahre bilden gewissermaßen das intellektuelle Aroma der Geburt der Tragödie. In einem Brief an Gersdor ff vom 1. Mai 1872 schreibt Nietzsche, er sei »glücklich, in meinem Buche mir selbst jene Tribschener Welt petri fi cirt zu haben« (NW 365). Nicht nur Wagners theoretischen Schriften verdankt die Geburt der Tragödie grundlegende Anregungen, sondern auch und fast mehr noch den Tribschener Gesprächen. In der Tat ist jene Abhandlung der zum Traktat ›versteinerte‹ Dialog mit Wagner. Als eine Art »Zwiegespräch« mit dem »grossen Künstler« Richard Wagner – dem eigentlichen Adressaten – wird er die Geburt der Tragödie noch im Versuch einer Selbstkritik von 1886 bezeichnen (SW 1, 13).
    Dem Begeisterungssturm, den die Geburt der Tragödie im Hause Wagner im Januar 1872 auslöst, wird nicht einmal ein halbes Jahr später die große Ernüchterung folgen. Ende Mai (Wagners sind seit kurzem nach Bayreuth übergesiedelt) erscheint ein Pamphlet von Ulrich von Wilamowitz-Moellendor ff – Nietzsches Mitschüler in Schulpforta, der einer der bedeutendsten klassischen Philologen des 20. Jahrhunderts werden sollte – mit dem Titel Zukunftsphilologie! , das Nietzsches Engagement für die »Zukunftsmusik« schon vom Titel her ins Lächerliche zieht und die Geburt der Tragödie als Verrat an der Philologie brandmarkt. Bei Cosima und Richard Wagner löst Wilamowitz’ Streitschrift größte Bestürzung aus. In einem ö ff entlichen Verteidigungsbrief an Nietzsche, der am 23. Juni in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erscheint, spielt Wagner seine eigene enthusiastische Beziehung zur klassischen Antike, aus der er sich seit seiner Dresdener Kreuzschulzeit »ein Ideal für meine musische Kunstanschauung« herausgearbeitet habe (NW 176), gegen die sterile universitäre Philologenabrichtung aus, nicht zuletzt inspiriert durch Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten , die die Wagners im März gemeinsam mit großer Anteilnahme gelesen haben. Wilamowitz wird von Wagner in seinem Brief zu einem typisch deutschen, hämischen Pedanten à la Beckmesser stilisiert und satirisch verhöhnt.
    Wagners Brief hat Nietzsche jedoch ebenso wenig geholfen wie Erwin

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