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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Bindegliedes, Mentors und Erziehers ihres ersten und einzigen Sohnes zugedacht. Scheint doch seine Gegenwart in Tribschen während der Geburt Siegfrieds, so wähnt Wagner in seinem Brief an Nietzsche vom 4. Juni 1870, »meinem Sohne Glück gebracht« zu haben (NW 87). Schon in Cosimas Tagebuch vom 5. November 1869 ist zu lesen: »R. […] nimmt […] Siegfried auf den Arm und spielt eine lange Zeit mit ihm; er sagt mir, ›wir werden Siegfried später weggeben müssen, zur Zeit, wo er zum Mann wird, muß er unter Menschen kommen, da muß er die Adversität kennenlernen, sich herumbalgen, die Ungezogenheiten begehen, sonst wird er zum Phantasten, vielleicht zum Crétin, wie wir so etwas an dem König von Bayern sehen‹. ›Aber wo.‹ ›Bei Nietzsche – da, wo Nietzsche Professor sein wird, wir werden von weitem zusehen, wie Wotan der Erziehung von Siegfried zusieht. Er wird bei Nietzsche zweimal die Woche Freitisch haben, und alle Sonnabende werden wir Berichte erwarten.‹« (NW 1152 f.) Eine für Wagners utopisches Denken typische Äußerung: pädagogische Utopie, aber mit sehr konkreten Handlungsanweisungen:
    Das abschreckende Beispiel des zum »Phantasten und Crétin« verzogenen Ludwig II. – verwunderlich, dass Wagner sich in dieser Zeit ein derart abschätziges Urteil über seinen königlichen Freund und Mäzen erlaubt – ruft das Gegenbild der anarchischen Erziehung des ›ungezogenen‹ jungen Siegfried herauf, der eben nicht in einer abgeschlossenen Welt aufwächst, sondern in der freien Natur, der die »Adversität« (da hat Wagner an die Widrigkeiten des Lebens gedacht und die Pariserin Cosima an die französische Vokabel »adversité«) kennenlernt und an ihr reift. Aber bezeichnenderweise soll das Anarchische gleich kanalisiert und überwacht werden: am Freitisch und in wöchentlichen Protokollen. (Und gerade Siegfried wird nach dem Tode Wagners alles andere als eine anarchische Naturerziehung genießen und kaum weniger als der König von Bayern in einem ideologischen Kä fi g aufwachsen – mit der von seinem Vater befürchteten Gefahr der Kretinisierung.)
    Nietzsches Werben um Wagners intellektuell-ästhetische Gunst wird von diesem mit einem förmlichen Liebeswerben beantwortet – »seit ich Sie lieb gewonnen habe«, wie er in seinem Brief vom 7. Februar 1870 schreibt (NW 59). »Ich habe jetzt Niemand, mit dem ich es so ernst nehmen könnte, als mit Ihnen – die Einzige ausgenommen.« (NW 58) Diese persönliche Hochschätzung wird sich in Wagners Brief an Nietzsche vom 25. Juni 1872 – nach der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses – zu den unerhörten Sätzen steigern: »O Freund! […] Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel.« (25. Juni 1872; NW 190) Wagner – dessen Sprössling ja eher das Alter eines Enkels für ihn hat – nimmt Nietzsche an Sohnes Statt an: König Marke und Tristan! Nietzsches ›Adoption‹ durch Wagner erklärt, warum er den späteren ›Verrat‹ des von ihm mit so o ff enem Herzen und o ff enen Armen in seinem Hause aufgenommenen jungen Freundes geradezu als Vatermord empfunden hat.
    Die Entzweiung mit Nietzsche ist die wohl tiefste menschliche Enttäuschung in Wagners Leben gewesen – seine größte Niederlage. Freilich hat auch Nietzsche Wagner – wie er später in zahllosen Äußerungen bis in die Zeit seines Wahnsinns hinein bekannt hat – wahrhaft geliebt, ja in einer Aufzeichnung aus den nachgelassenen Fragmenten von April bis Juni 1885 steht der Satz: »Ich habe ihn geliebt und Niemanden sonst.« (SW XI, 506) Nietzsche wurde von Wagner und seiner Frau in der Tribschener Zeit weit über alle intellektuelle Partnerschaft hinaus in ihr häusliches Leben integriert. Es dürfte ein Unikum in der Kulturgeschichte sein, dass einer der epochemachenden Denker der Moderne einem ihrer größten Künstler nicht nur geistiger Partner und Widerpart war, sondern für ihn auch eine Art Faktotum spielte, d. h. ihm alltägliche Besorgungen abnahm, für deren Erledigung Tribschen zu abgelegen war, den Druck seiner Autobiographie überwachte, Manuskripte abschrieb ( Siegfried’s To d ), seiner Frau und seinen Kindern aus Basel Konfekt, Spielzeug, Brüsseler Spitzen oder zu Weihnachten »weißen Tüll mit Goldsternen« für das Christkindchen (NW 335)

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