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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Programm der Züricher Reformschriften mit seinem Schopenhauerianertum zu versöhnen. Keine andere Gestalt in seinem Werk dürfte dieser Formel mehr entsprechen als Hans Sachs, der zwar vom »Wahn« der Welt tief melancholisch überzeugt ist, aber doch in seiner herzlichen Zuwendung zur jungen Generation der Ho ff nung Raum gibt und in der Gestalt Walthers von Stolzing das »Kunstwerk der Zukunft« protegiert.
    Im Sommer 1870 fällt der dunkle Schatten der Zeitgeschichte auf das Tribschener Idyll. Am 15. Juli beschließt das französische Parlament den Krieg gegen Preußen. »Hier ein furchtbarer Donnerschlag«, schreibt Nietzsche am folgenden Tag an Erwin Rohde: »der französisch-deutsche Krieg ist erklärt, und unsere ganze fadenscheinige Kultur stürzt dem entsetzlichen Dämon an die Brust.« (SBr III, 130 f.) In Tribschen ergreift man uneingeschränkt die Partei Preußens – die zum Deutschtum konvertierte Pariserin Cosima fast noch mehr als Wagner. In seinem Falle hat es wesentlich länger gedauert als bei Nietzsche, bis sich seine nationale Euphorie abkühlte. Nietzsche fürchtete schon mitten im Krieg, dass ein preußischer Sieg über Frankreich eine kulturelle Niederlage sein würde. »Vor dem bevorstehenden Culturzustande habe ich die größten Besorgnisse«, schreibt er am 7. November an Rohde. »Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu teuer in einer Region bezahlen müssen, wo ich wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht. […] Es ist mitunter recht schwer, aber wir müssen Philosophen genug sein, um in dem allgemeinen Rausch besonnen zu bleiben« (SBr III, 155 f.).
    Drei Jahre später wird Nietzsche in der ersten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen (1873) – die auch Wagner gelesen hat – hellsichtig bemerken, der preußische Sieg drohe zur » Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ›deutschen Reiches‹ zu führen . « (SW I, 159 f.) Bis auch Wagner so weit dachte wie sein junger Freund, sollten noch Jahre vergehen. »So schnell haben sich es allerdings wohl nur Wenige gedacht, dass die Oede des preussischen Staatsgedankens uns als deutsche Reichsweisheit aufgedrängt werden solle!«, schreibt er erst am 10. Februar 1878 an Ludwig II. (LW III, 116 f.) und am 15. Juli 1878 (wiederum an den König): »Und so ekelt mich dieses neue Deutschland an! Das soll ein Kaiserreich sein? Ein ›Berlin‹ als Reichshauptstadt! Es ist ein reiner Spott von oben herab, der nun von unten herauf erwidert wird.« (LW III, 129)
    Als Nietzsche sich von der Basler Erziehungsbehörde beurlauben lässt, um als Krankenp fl eger im Krieg zu dienen, löst das in Tribschen trotz aller Kriegsbegeisterung große Beunruhigung aus. »Ich kann Ihren Entschluss, dessen Antrieb ich würdige und verstehe, durchaus nicht gut heissen«, urteilt Cosima am 9. August; »die Werke des Friedens dürfen nicht brach liegen wenn der Kampf nicht ein verzweifelter ist; Sie sind ein Gelehrter und müssen es bleiben«, betont sie (NW 96 f.). Aufgrund seiner Abwesenheit auf dem Kriegsschauplatz versäumt Nietzsche Richard und Cosima Wagners Trauung und die Taufe Siegfrieds, wovon Cosima ihm nur brieflich berichten kann. Der von seinem kurzen Kriegsdienst gesundheitlich angeschlagene Nietzsche verbringt jedoch 1870 wie im Jahr zuvor das Weihnachtsfest in Tribschen und wohnt der Uraufführung des Siegfried-Idylls bei. Sein eigener Beitrag zum Weihnachtsfest, sein Geburtstagsgeschenk für Cosima, ist der Essay Die Geburt des tragischen Gedankens , der von ihr und Wagner begeistert gelesen wird. Nietzsche berichtet in einem Brief an Mutter und Schwester beglückt von dem zurückliegenden Weihnachts- und Geburtstagsfest. Doch das »Tribschener Idyll« steht für ihn vor einem fi nsteren Zeithintergrund: »Die Nachwirkungen des Krieges sind mehr zu fürchten als der Krieg selber mit seinen ungeheuren Verlusten. –« (SBr III, 171)
    Der Beginn des Jahres 1872 bildet mit dem Erscheinen von Nietzsches Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik den emphatischen Höhepunkt der Freundschaft Wagners und Nietzsches. Dessen Begleitbrief vom 2. Januar, mit dem er sein Buch nach Tribschen schickt, stellt es als »Wahrzeichen« und Summe seiner geistigen Beziehungen zu Wagner dar (NW 150 f.). Und Wagner: »das ist das Buch, was ich mir ersehnt habe«, wie er am 6. Januar 1872 Cosima gegenüber

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