Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
August 1877 kann Wagner mit der musikalischen Ausführung des Werks beginnen. Die Tagebücher Cosimas dokumentieren fast jeden entscheidenden Arbeitsschritt. Ende Januar 1878 ist der Kompositionsentwurf des ersten Akts abgeschlossen, derjenige des zweiten Akts wird im Oktober und der des dritten Akts Ende April des folgenden Jahres beendet. Schon zu Cosimas Geburtstag am 25. Dezember 1878 fi ndet – wie acht Jahre zuvor das Siegfried-Idyll im Tribschener Treppenhaus – die erste Aufführung des vorab instrumentierten Parsifal- Vorspiels unter Wagners Leitung in der Halle von »Wahnfried« statt.
Ehe Wagner an die Ausarbeitung der Partitur geht, widmet er sich der schriftstellerischen Tätigkeit für die seit Januar 1878 erscheinenden Bayreuther Blätter , die sein Adept Hans von Wolzogen (1848–1938) sechzig Jahre lang redigieren und in denen sich die Bayreuther Ideologie mit all ihren Fragwürdigkeiten im Vor- und Umfeld völkischer und nationalsozialistischer ›Weltanschauung‹ manifestieren wird. Von ihr unterscheiden sich Wagners eigene Beiträge in vieler Hinsicht doch noch beträchtlich. Sie kreisen um die Idee der »Regeneration« der Menschheit – ein Kernbegri ff dieser späten Schriften – durch eine radikal neue Lebensführung, welche der »Entartung des menschlichen Geschlechtes« (GS X, 242) zumal durch die moderne »Kriegs-Zivilisation« (GS X, 255) entgegenwirken soll. Diese Regeneration habe mit der völligen Umstellung der Ernährung, zumal fort vom Fleisch- und Alkoholkonsum, zu beginnen. Ein zentrales Anliegen Wagners ist der umfassende Schutz der Natur; daher seine scharfe Ablehnung der Vivisektion, sein Engagement für Vegetarismus und Tierschutz. Sollten sich die neuen Lebensformen in der alten Welt nicht realisieren lassen, spekuliert er allen Ernstes mit der Auswanderung der gesamten europäischen Bevölkerung in die wärmeren Klimazonen des südlichen Erdteils. (Er selbst trägt sich übrigens in seiner »vollständigen Verzwei fl ung an Deutschland«, seinem Brief an Ludwig II. vom 31. März 1880 zufolge, »ernstlich« mit dem Gedanken einer »Uebersiedlung nach Amerika«; LW III, 173.) Aberwitz verbindet sich da mit utopischen Kühnheiten.
Die bedeutendste der sogenannten Regenerationsschriften zwischen 1878 und 1881 ist Religion und Kunst (1880), der Wagner (in diesem und dem nächsten Jahr) mehrere Nachträge folgen lässt ( Was nützt diese Erkenntniß? , Erkenne dich selbst und Heldenthum und Christenthum ). Die Regenerationsidee richtet sich mittelbar gegen Arthur Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853–1855), welcher die Geschichte der Menschheit und der westlichen Gesellschaft als einen Prozess unaufhörlicher Degeneration infolge der zunehmenden Rassenmischung beschreibt. Diesem fatalistischen Absolutismus des Rassegedankens und seinen pessimistischen Folgen widersetzt sich Wagner im Namen der Einheit der menschlichen Gattung, welche sich ihm unter dem Ein fl uss der Philosophie Schopenhauers in ihrer Leidens- und Mitleidensfähigkeit manifestiert und welche die Ho ff nung auf eine Wiedergeburt des Menschengeschlechts gestattet: Regeneration versus Degeneration.
Ende August 1879 beginnt Wagner mit der Partitur des Parsifal. Mit ihr reist er im Dezember nach Italien, wo er bis Ende Oktober des nächsten Jahres bleibt, da nach ärztlicher Meinung das Bayreuther Klima seinem emp fi ndlich angegri ff enen Gesundheitszustand abträglich ist und ihn immer schwerere Herzanfälle belasten. Bis August 1880 lebt er, eingehüllt von dem paradiesischen mediterranen Ambiente, in der Villa d’Angri bei Neapel. Die wie üblich hochherrschaftliche Residenz mit ihrem unvergleichlichen Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv lässt Wagner – wie auch seine wiederholten Aus fl üge in die Umgebung – immer wieder seine gesundheitlichen Beschwernisse vergessen. In der Villa d’Angri schließt er Ende März 1880, nach anderthalb Jahrzehnten, das Diktat seiner Autobiographie ab, führt Gespräche mit befreundeten Gästen und Mitarbeitern und entwickelt mit dem russischen Maler Paul von Joukowsky die Ideen für Dekorationen und Kostüme des Parsifal. Im Mai leitet er eine Hausaufführung der Gralsszene aus dem ersten Aufzug; Ende Juni trägt er, ein begnadeter Rezitator nicht nur seiner eigenen Werke, an drei Abenden zur Erschütterung seiner Gäste die Orestie von Aischylos vor, die von früher Jugend an seine Idee des Theaters repräsentiert hat. »Meine
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