Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
habe, »die er dem protestantischen Abendmahle abzugewinnen wisse, während er zu gleicher Zeit mit seiner Parsifal-Musik allem eigentlich Römischen die Hände entgegenstreckte« (Fragment von August/September 1885; NW 894, auch 877).
Die letzte Zeit seines bewussten Lebens hat Nietzsche überwiegend in Turin verbracht. Ende September 1888 erscheint Der Fall Wagner , von Nietzsche als »Turiner Brief vom Mai 1888« bezeichnet. Er beginnt mit einem Paukenschlag: der Gegenüberstellung von Georges Bizet und Wagner. Nietzsche hat Bizets Carmen zuerst im November 1881 in Genua und seither mehrfach gehört. Auch den Klavierauszug der Oper hat er sich besorgt und ihn mit zahlreichen, vielfach hymnischen Randbemerkungen versehen. Bizets Musik ist für ihn die glücklichste Verwirklichung des gegen Wagner gerichteten Appells »Il faut méditerraniser la musique« (SW VI, 16). Umso merkwürdiger, dass der Name Bizet, der doch die große Alternative zu Wagner sein soll, nach den ersten panegyrischen Seiten der Streitschrift überhaupt nicht mehr vorkommt, ja dass es in der »Zweiten Nachschrift« heißt: »Wenn ich Wagnern den Krieg mache […], so möchte ich am allerwenigsten irgend welchen andren Musikern damit ein Fest machen. Andre Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht« (SW 6, 46 f.). Also doch wohl auch Bizet nicht! In einem Brief an Carl Fuchs vom 27. Dezember 1888 schreibt Nietzsche in der Tat: »Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt B[izet] Tausend Mal für mich nicht in Betracht [die gleiche Formulierung wie in der »Zweiten Nachschrift«]. Aber als ironische Antithese gegen W[agner] wirkt es sehr stark« (SBr VIII, 554).
Trotz aller Polemik gegen Wagner kann Nietzsche von seiner Faszination durch ihn nicht lassen. Das ist auch der Grund dafür, dass er kurz vor seinem paralytischen Zusammenbruch die Druckerlaubnis für seine zweite Streitschrift gegen Wagner – Nietzsche contra Wagner – zurückgezogen hat. Dieser Widerruf hängt zweifellos mit der denkwürdigen, leidenschaftlichen Zuwendung Nietzsches zu Tristan und Isolde gerade in den letzten Tagen seines bewussten Lebens zusammen. Ausgerechnet in seinem Brief an Carl Fuchs vom 27. Dezember 1888, in dem er diesen zu ermuntern sucht, zusammen mit Peter Gast eine Schrift gegen Wagner unter dem Titel »Der Fall Nietzsche« zu publizieren, steht – übrigens neben der bereits zitierten Relativierung seiner Bizet-Huldigung – der Satz: »Den Tristan umgehn Sie ja nicht [in der vorgeschlagenen Schrift]: es ist das capitale Werk und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist.« (SBr VIII, 554) Als Peter Gast in seinem Brief vom 29. Dezember seine Bedenken gegen den Plan der Anti-Wagner-Schrift äußert, antwortet Nietzsche am 31. Dezember: »Sie haben tausend Mal Recht! […] Sie werden in Ecce homo eine ungeheure Seite über den Tristan fi nden, überhaupt über mein Verhältniß zu Wagner. W[agner] ist durchaus der erste Name, der in E[cce] h[omo] vorkommt.« (SBr VIII, 567)
Die »ungeheure Seite über den Tristan « in Ecce homo ist der sechste Abschnitt des Kapitels: »Warum ich so klug bin«. Dort stehen die Sätze: »Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci’s entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. […] Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen Niemand ausser ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, dass wir tiefer gelitten haben, auch an einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen; und so gewiss Wagner unter Deutschen bloss ein Missverständnis ist, so gewiss bin ich’s und werde es immer sein.« (SW VI, 289 f.) Das klingt wie ein geistiges Testament – dessen Kardinalidee das Leiden aneinander und am Jahrhundert, das Unverstandensein unter den Deutschen als das über alle Di ff erenzen hinweg Verbindende zwischen Wagner und Nietzsche ist.
Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass
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