Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
spirituellen Kraft läuternd.
In seiner Schrift Die Wibelungen (1848) hat Wagner den Gral in Beziehung zum Nibelungenhort gesetzt. In dem Kapitel »Aufgehen des idealen Inhalts des Hortes in den ›heiligen Gral‹« schreibt er: »Das Streben nach dem Grale vertritt nun das Ringen nach dem Nibelungenhorte« (GS II, 150 f.), der, auf seinen »realen Inhalt« reduziert, zum »tatsächlichen Besitz«, zum »Eigentum«, zum Kapital werde. »Mochte in der ältesten religiösen Vorstellung der Hort als die durch das Tageslicht allen erschlossene Herrlichkeit der Erde erscheinen« – so preisen ihn ja auch Wagners Rheintöchter im Rheingold – , »so sehen wir ihn später in verdichteter Gestaltung als die machtgebende Beute des Helden« (GS II, 153). Indem das Rheingold, in dem idealer und realer Inhalt noch nicht geschieden sind, zum Ring, zum »machtgebenden Besitz« (GS II, 153) verdinglicht wird, geht der ideale Inhalt des Golds an das Anti-Kapital des Grals über.
Die Tagebücher Cosimas aus der Zeit der Komposition des Parsifal zeigen, wie auffallend oft Wagner die Gestalten seines »letzten Werks« (CT II, 319) zu Personen seiner früheren musikalischen Dramen in Beziehung setzt. Da vergleicht er Titurel mit Wotan in ihrer »Weltentsagenheit« (CT II, 47 f.), zieht den naheliegenden »Vergleich zwischen Alberich und Klingsor« (CT II, 52): beide erlangen Macht auf Kosten der Liebe und als Rache für ihren Verlust. Auch Wotan und Kundry vergleicht er: in ihrer Sehnsucht nach Erlösung und ihrem gleichzeitigen Aufbäumen gegen dieselbe – in der Begegnung Kundrys mit Parsifal auf der einen, Wotans mit Siegfried auf der anderen Seite (CT II, 108). »Eigentlich hätte Siegfried Parsifal werden sollen und Wotan erlösen«; d. h. wie Parsifal auf Amfortas, so hätte Siegfried mitleidend auf den »leidenden Wotan« tre ff en müssen (CT II, 339).
Schon in seinem Brief an Mathilde Wesendonck vom 30. Mai 1859 nennt Wagner den leidenden Amfortas seinen »Tristan des dritten Aktes mit einer undenklichen Steigerung« (SB XI, 105). Der Anblick des stets von neuem lebenspendenden Grals treibt den zum Sterben entschlossenen König zu der gleichen wütenden Verzwei fl ung wie der zum Leben zwingende Liebestrank den aus der Todesnacht zurückkehrenden Tristan. Wagner hatte ursprünglich gar vorgehabt, den Gralssucher Parzifal in den Schlussakt des Tristan hineinzu fl echten, wo er eine ähnlich antipodische Rolle gegenüber dem von Liebe zerfressenen Tristan wie bei Kundry gespielt hätte.
So waltet zwischen Parsifal und Wagners früheren Dramen ein werkübergreifender, mythologisch-symbolischer Beziehungszauber, der sich mit der Leitmotivtechnik vergleichen lässt. Doch noch ein anderes Beziehungsnetz überzieht Wagners letztes Werk: seine Handlung und Kon fi gurationen lassen immer wieder Konstellationen des hellenischen (Prometheus, Herakles) wie des biblisch-christlichen Mythos, der jüdischen Theosophie (mit der er zumal aufgrund seiner eindringlichen Beschäftigung mit August Friedrich Gfrörers Geschichte des Urchristenthums [1838] erstaunlich vertraut war) wie der buddhistischen Lehre und Legende durchscheinen – ein panreligiöses Mysterienspiel, in dem ein schopenhauerisiertes, mit Elementen des Buddhismus durchsetztes Christentum den Ton angibt.
In ihrem Tagebuch vom 1. Oktober 1882 berichtet Cosima Wagner von einem Gespräch Richard Wagners über Buddha mit dem jungen, früh verstorbenen Philosophen Heinrich von Stein (1857–1887), der im Hause Wagner gewissermaßen die früher Nietzsche zugedachte Rolle des Erziehers von Siegfried übernahm. »Den Buddhismus selbst erklärt er für eine Blüte des menschlichen Geistes«, so Cosima, »gegen welche das darauf Folgende Décadence sei, gegen welche wiederum auf dem Wege der Kompression das Christentum entstanden sei.« Dieses erscheint Wagner mithin als eine Art Wiederherstellung der Ideenwelt des Buddhismus durch Verdichtung der verfallenen und zerfallenen Religionen der vorangegangenen Jahrhunderte. »Von einer außerordentlichen jugendlichen Kraft des menschlichen Geistes zeuge der Buddhismus […]. Daß es keinen Zwang, irgend welchen gab, in Folge dessen keine Kirche […]. Daher auch, bei dieser so glücklich mangelnden Organisation, waren sie [die Anhänger Buddhas] von einer solch organisierten Macht wie dem Brahmanismus so leicht zu verdrängen.« Dieser unterscheidet sich vom Buddhismus gewissermaßen wie die christliche Kirche von der reinen Lehre
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