Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
seines Alltags in Paris und Meudon, der Wechsel von Depression und Rausch, etwa die origiastische Silvesterfeier 1840 mit seinen Freunden, dem Bibliothekar Anders, dem Philologen Lehrs und den Malern Kietz und Pecht, gemahnen in manchen Zügen an die Schilderung der Bohème in Henri Murgers Scènes de la vie de bohème (1847–49) und Puccinis Oper La Bohème (1896). Nie gelangt Wagner – trotz sporadischer Kontakte zu Größen der Pariser Musikkultur wie Meyerbeer, Halévy, Berlioz oder Liszt – in die Kreise, die zählen und zahlen, sein Geldmangel treibt ihn nahezu in den völligen Ruin, vor dem er sich nur mit knapper Not durch journalistische Gelegenheitsaufträge und musikalische Lohnarbeit (wie Klavierarrangements der in Paris populären Opern von Donizetti, Halévy, Auber u. a.) sowie Vertonungen französischer Gedichte (von Victor Hugo, Ronsard, Reboul und Béranger; WWV 53–58 und 61) retten kann oder auch nur zu retten sucht, neben denen seine eigenen und eigentlichen Werke immer wieder ihre schöpferische Zeit behaupten müssen: Rienzi , eine geplante Faust- Symphonie, von der nur deren erster Satz – Wagners wohl bedeutendstes reines Instrumentalwerk – als Eine Faust-Ouvertüre (WWV 59) fertiggestellt wird, und endlich Der fl iegende Holländer (WWV 63), den er im November 1841 abschließt. Dass Wagner inmitten des alltäglichen Lebenskampfes, im Ringen um die nackte materielle Existenz – bisweilen muss er sich auf Bittgängen durch die Gassen ein paar Francs erbetteln, um sich und Minna wenigstens Grundnahrungsmittel kaufen zu können, oder er schlägt mit seiner Frau in Meudon Nüsse von Bäumen, um seinen Hunger zu stillen (wie Marie Schmole, die Tochter des Kostümmalers Ferdinand Heine, berichtet hat) – und trotz der Ablenkung durch zahllose Nebenarbeiten den großen Atem für Rienzi und Der fl iegende Holländer gefunden hat, zeugt von seiner ungeheuren Willenskraft, sich durch die Misere seines Lebens nicht von der künstlerischen Sendung abbringen zu lassen, die sich in seinen Pariser Feuilletons, die er in der Gazette musicale de Paris in französischer Übersetzung verö ff entlicht, bereits emphatisch Bahn bricht.
Die Demütigungen, denen Wagner ausgesetzt ist, die Bettelbriefe, die er sich – so auch an Meyerbeer – zu schreiben gezwungen sieht, und die deprimierende Erfolglosigkeit (etwa der Tiefschlag der wegen des Bankrotts des Pariser Renaissancetheaters gescheiterten Aufführung des Liebesverbots , das er doch so ganz für den französischen Geschmack bestimmt wähnte) machen ihn besonders empfänglich für Werke wie Proudhons Qu’est-ce que la Propriété (1840) mit ihrer anarchistisch-sozialistischen Eigentumskritik, auf die er sich bis an sein Lebensende immer wieder berufen wird. So bezeichnet er noch eine Woche vor seinem Tode angesichts der geschlossenen Paläste der reichen Venezianer im Gespräch mit Cosima das Eigentum als »Grund alles Verderbens« (CT II, 1107), wobei er sich ausdrücklich auf Heinses Ardinghello und eben auf Proudhon beruft.
Trotz alles Elends bedeutet Paris für Wagner eine unerhörte Erweiterung seines Horizonts. Seine lebensbestimmenden Ideen reifen schon hier, wie seine Artikel für die Gazette musicale und die Berichte für die Dresdener Abend-Zeitung zeigen. Es sind Studien teils essayistischen Charakters, wie die Artikel Der Künstler und die Ö ff entlichkeit oder über den Freischütz , der 1841 an der Großen Oper seine Erstaufführung erlebt, teils novellistischen Zuschnitts wie Eine Pilgerfahrt zu Beethoven und Ein Ende zu Paris. Ganz der romantischen Ästhetik, insbesondere derjenigen E. T. A. Ho ff manns entsprechend, verbinden sich hier Kritik und Erzählung, indem – mit unverkennbar autobiographischem Hintergrund – sowohl von Leben, Ansichten, Wirken und Tod eines fi ktiven Musikers mit der Initiale ›R…‹ erzählt wird, als auch Essays aus seiner Feder fi ngiert sind. Im Band I seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen hat Wagner später diese Studien unter dem Titel Ein deutscher Musiker in Paris. Novellen und Aufsätze (1840 und 1841) zusammengefasst.
In der humoristischen Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven lässt Wagner seinen Musiker in Konkurrenz mit einem englischen Musiktouristen um einen Besuch bei Beethoven ringen, der ihm schließlich auch gelingt und bei dem der fi ktive Beethoven gegen die herkömmliche Nummernoper, gegen den Missbrauch der Kunst als »Waare« (GS I, 112) und das spezi fi sche
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