Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
in die französische Hauptstadt, wo er sich u. a. mit dem ebenfalls emigrierten Architektenfreund Gottfried Semper tri ff t und erneut Meyerbeer begegnet, der ihn Wagners Bericht zufolge ironisch fragt: »Wollen Sie Partituren für die Revolution schreiben?« (ML 431), und er kehrt – erfüllt von »Widerwillen gegen Paris« und die »Nichtswürdigkeit des Pariser Kunsttreibens, namentlich auch was die Oper betri ff t« (an Ferdinand Heine, 19. November 1849; SB III, 146 ff .) – am 6. Juli nach Zürich zurück. Am 1. Februar des nächsten Jahres macht er sich gleichwohl, von seiner Frau wie von Franz Liszt gedrängt, abermals nach Paris auf, um dort Fuß zu fassen – vergeblich. Bei seinem Aufenthalt vom 9. bis 28. Oktober 1853 lernt er Liszts sechzehnjährige Tochter Cosima kennen. Am 26. Februar 1855 reist er von Zürich aus über Paris nach London. Am 15. Januar 1858 begibt er sich wiederum bis zum 6. Februar nach Paris, tri ff t dort mit Hector Berlioz zusammen, der ihn mit dem Projekt der Trojaner bekannt macht. Am 10. September 1859 siedelt er bis Ende Juli 1861 mit Unterbrechungen ganz nach Paris über, gelangt zum ersten Mal in die ein fl ussreichsten Kreise der Pariser Kunstgesellschaft, führt gar einen Salon, löst mit seinen Konzerten Verwirrung wie Begeisterung (Baudelaire) aus und schreibt den Tannhäuser für Paris um, der im März 1861 seine skandalumwitterte französische Erstaufführung erlebt. Vom 30. November desselben Jahres bis zum Anfang Februar des nächsten hält er sich erneut in Paris auf. Zum letzten Mal besucht er die französische Hauptstadt vom 28. Oktober bis 4. November 1867 und erlebt den letzten Tag der Weltausstellung.
Trotz seines immer wieder ausbrechenden Hasses auf den Ort seines tiefsten Elends, der sich bis zu Vernichtungsphantasien (eines Brandes der ganzen Stadt) steigert, hat Paris doch seine Faszination auf Wagner nie verloren. Niemand hat dessen tiefere A f fi nität zu Paris deutlicher erkannt als Nietzsche: »Was endlich Richard Wagner angeht: so greift man mit Händen, nicht vielleicht mit Fäusten, dass Paris der eigentliche Boden für Wagner ist: je mehr sich die französische Musik nach den Bedürfnissen der › âme moderne ‹ gestaltet, um so mehr wird sie wagnerisiren – sie thut es schon jetzt genug.« So schreibt Nietzsche im Kapitel »Wohin Wagner gehört« aus Nietzsche contra Wagner (NW 1129 f.). Schon im Aphorismus 256 aus Jenseits von Gut und Böse hat Nietzsche die These aufgestellt, »daß die französische Spät-Romantik der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören. […] Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner’s darüber mit sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob es nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst angesichts des französischen Sozialisten-Vorbilds sich vollenden konnte.« (NW 931 ff .)
Nietzsche geht auch so weit, Paris als den heimlichen Hinter- und Untergrund des Wagnerschen Musikdramas zu dechi ff rieren. »Aber der Gehalt der Wagnerschen Texte! Ihr mythischer Gehalt, ihr ewiger Gehalt!«, lässt er sich in seiner Streitschrift Der Fall Wagner (1888) widersprechen, und er antwortet: »Frage: wie prüft man diesen Gehalt, diesen ewigen Gehalt? – Der Chemiker antwortet: man übersetzt Wagnern in’s Reale, in’s Moderne, – seien wir noch grausamer! In’s Bürgerliche!« Wie es George Bernard Shaw zehn Jahre später in seinem Perfect Wagnerite konsequent unternehmen wird, in dem der Ring ganz als Allegorie des 19. Jahrhunderts ausgelegt wird! Wagner »in verjüngten Proportionen« also! Was kommt dabei heraus: »Würden Sie es glauben, dass die Wagnerischen Heroinen sammt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgestreift hat, zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehn!« Was den Gehalt der Wagnerschen Musikdramen, je ›mythischer‹ sie sind, ausmacht, so Nietzsche, sind also »ganz moderne, lauter grossstädtische Probleme!« (SW VI, 34). Sprich: Paris!
Abb. 8 : Paris, Boulevard des Italiens, 19. Jahrhundert
Die von Nietzsche immer wieder – teils mit Respekt, teils polemisch – geäußerte Auffassung,
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