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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Opernpublikum polemisiert: »Sie kennen alle nur die glänzende Lüge, brillanten Unsinn und überzuckerte Langeweile. Wer ein wahres musikalisches Drama machte, würde für einen Narren angesehen werden« (GS I, 109). Dieses »musikalische Drama« aber bestünde in der Einheit von Poesie und Musik. In den Instrumenten des Orchesters repräsentieren sich die »Urorgane der Schöpfung und der Natur«, die noch unbestimmten »Urgefühle […], wie sie aus dem Chaos der ersten Schöpfung hervorgingen«, im Gesang der Menschenstimme aber repräsentiert sich »das menschliche Herz und dessen abgeschlossene, individuelle Emp fi ndung«. Hier ist bereits die ganze spätere Ästhetik des musikalischen Dramas in nuce artikuliert, deren Maximen Wagner in seinem eigenen Opernscha ff en zu dieser Zeit durchaus noch nicht eingelöst hat. Beethovens Ziel bei Wagner: »Man bringe nun diese beiden Elemente zusammen, man vereinige sie! Man stelle den wilden, in das Unendliche hinausschweifenden Urgefühlen, repräsentirt von den Instrumenten, die klare, bestimmte Emp fi ndung des menschlichen Herzens entgegen, repräsentirt von der Menschenstimme.« (GS I, 110) Fast kündigt sich hier schon Nietzsches Idee des Zusammen- und Ineinanderwirkens des aus dem Unendlichen hervorströmenden vorindividuellen, dionysisch-musikalischen Urgrunds der Tragödie und der apollinisch-plastischen, individuell begrenzten Sprachhandlung des Bühnendarstellers an.
    In der Novelle Ein glücklicher Abend wird bereits die Idee des unsichtbaren Orchesters entfaltet, und Ein Ende in Paris gipfelt in dem berühmten ›Testament‹ des sterbenden Musikers: »Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven, in Gleichem an ihre Jünger und Apostel; – ich glaube an den heiligen Geist und die Wahrheit der einen, untheilbaren Kunst« (GS I, 135). Doch nicht nur derart emphatische ästhetische Bekenntnisse enthalten Wagners Pariser Feuilletons, sondern die Essays Über deutsches Musikwesen oder Der Künstler und die Ö ff entlichkeit bieten kunstsoziologische Einsichten, die schon auf die späteren Reformschriften vorausweisen. Im Artikel über das deutsche Musikwesen demonstriert Wagner Vor- und Nachteile des »Mangels an Centralisation« in Deutschland. Dieser verhindert freilich eine »höhere Ö ff entlichkeit«, so dass die Werke deutscher Künstler fast immer nur »Provinzial-Erzeugnisse« bleiben. Das aber hat zur Folge – Wagner wird es an der Wirkung seines Rienzi bald erfahren, dessen gewaltiger Uraufführungserfolg in Dresden kaum Nachwirkung außerhalb Sachsens haben soll –, »daß der Komponist, der seine Werke in Berlin aufführte, schon deßwegen in Wien oder München gänzlich unbekannt bleibt« und es ihm erst »vom Ausland aus« gelingen kann, »auf das gesammte Deutschland zu wirken«. (Daher Wagners Drang nach Paris!) »Das wahrhaft Eigenthümliche des Deutschen bleibt in einem gewissen Sinne somit immer provinzial«; so aber kann »nie ein großes National-Musikwerk zum Vorschein kommen.« Der Vorteil dieses Fehlens einer ästhetischen ›Zentrale‹ ist indessen, »daß jede Provinz ihre Künstler aufzuweisen hat, die selbständig ihre theure Kunst p fl egen. Die Folge ist also die allgemeine Verbreitung der Musik bis in die unscheinbarsten Ortschaften, bis in die niedrigsten Hütten.« Und dadurch, dass sich die Kunst den ästhetischen Diktaten und Repräsentationsansprüchen einer Metropole, zumal eines »großen Hofes« entziehe, könne sie sich einen »innigen und wahren Charakter« – kurz: Autonomie erhalten (GS I, 153). Das hat das mehrjährige Leben in Paris mit seiner vom ›juste milieu‹ funktionalisierten Repräsentationskultur Wagner aufs deutlichste erfahren lassen. Von dieser Einsicht ist auch der Essay Der Künstler und die Ö ff entlichkeit geprägt, in dem er scharfe Kritik an der Diktatur des »Marktes« übt, der den Künstler der »Freiheit« und die Kunst ihrer Selbstgesetzlichkeit beraubt, überhaupt an der Herrschaft des Geldes, das für den Künstler der »Werbesold der Hölle« sei (GS I, 185).
    Als Wagner am 7. April 1842 Paris verlässt, ist das für ihn das Ende geradezu einer Höllenfahrt. Und doch: Paris bleibt auch für ihn eine Hauptstadt nicht nur seines Jahrhunderts, sondern auch seines eigenen Lebens. Immer wieder zieht es ihn in die französische Metropole zurück. Ein kurzer Vorausblick auf seine mehr oder weniger langen späteren Pariser Aufenthalte: am 30. Mai 1849 reist er von seinem Exil-Wohnort Zürich

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