Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
»der überwältigende, mein individuelles Wesen bei weitem energischer erfassende Sto ff des Tannhäusers« indessen nun fortführen (GS IV, 272).
Umsturz der Werte – Tannhäuser
Keine Oper Wagners hat eine so komplizierte Entstehungsgeschichte wie die »Große romantische Oper in drei Akten« Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (WWV 70). Laut Wagners eigener Darstellung in Mein Leben hat er den Plan bereits in Paris gefasst. Die erste Prosafassung der Oper – noch mit dem Titel Der Venusberg , den er fallenließ, als er erfuhr, dass »mons Veneris« ein medizinischer terminus technicus für den Schamberg und ein obszöner Ausdruck der Vulgärsprache ist (ML 314) – entstand jedoch erst nach seiner Rückkehr aus Paris im Sommer 1842. Im April 1843 beendet er die Dichtung, zwei Jahre später ist die Partitur abgeschlossen. Die Uraufführung fi ndet am 19. Oktober 1845 im Königlich Sächsischen Hoftheater zu Dresden unter Wagners Leitung statt, mit Joseph Tichatschek in der Titelrolle, Wagners Nichte Johanna (der Tochter seines Bruders Albert) als Elisabeth und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus.
Die Geschichte zumal der Umarbeitungen des Schlusses ist wechselvoll. Zu den wesentlichsten Änderungen kommt es im Zusammenhang mit der französischen Erstaufführung des Werks im März 1861, die mit dem berühmten, vom Pariser Jockey-Club inszenierten Skandal verbunden ist, den Wagner in Mein Leben dramatisch beschrieben hat. Wichtigster Bestandteil der Pariser Fassung ist das neugestaltete Bacchanal. Vierzehn Jahre später inszeniert Wagner in Wien Tannhäuser selber in der von ihm nun als allein gültig anerkannten Fassung mit der Pariser Venusberg-Szene. Und doch hat er weiter mit dem Tannhäuser gerungen. Am 6. November 1877 verzeichnet Cosima im Tagebuch, Wagner »nähme sich vor, die erste neue Szene bedeutend zu kürzen, sie drücke auf das übrige, es sei da ein Mangel in den Verhältnissen, diese Scene ging über den Stil des Tannhäuser hinaus« (CT II, 1083). Und noch wenige Wochen vor seinem Tod, am 23. Januar 1883, fällt im Gespräch mit Cosima die eigentümliche Äußerung, »er sei der Welt noch den Tannhäuser schuldig« (CT II, 1098).
Der Konzeption des Tannhäuser ist – noch in Paris – der Prosaentwurf Die Bergwerke zu Falun (WWV 67) nach E. T. A. Ho ff manns gleichnamiger Erzählung vorhergegangen. Hier wie da wird das künstliche Paradies eines Unterreichs beschworen: ein Zentralsymbol der Romantik, der Erzählungen von Novalis, Ho ff mann und Tieck. Dessen Erzählung Der getreue Eckart und der Tannenhäuser (1799) ist wohl die erste Quelle für Wagners »romantische Oper« gewesen. In Eine Mittheilung an meine Freunde erinnert er sich, schon früh sei die Gestalt Tannhäusers ihm »durch Tieck’s Erzählung bekannt geworden. Er hatte mich damals in der phantastisch mystischen Weise angeregt, wie Ho ff mann’s Erzählungen auf meine jugendliche Einbildungskraft gewirkt hatten« (GS IV, 269).
Abb. 11 : Skizze aus »Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg«, Januar 1845
Wagner ist im Jahre 1847 Ludwig Tieck, dem »König der Romantik«, wie Hebbel ihn genannt hat, noch persönlich begegnet. Er hat über sein Berliner Gespräch mit dem vierundsiebzigjährigen Dichter, dem einzigen Überlebenden der frühromantischen Generation, in Mein Leben ausführlich berichtet. Tieck kannte die Libretti sowohl des Tannhäuser , der ja nicht zuletzt durch seine eigene, ein halbes Jahrhundert zuvor entstandene Erzählung angeregt worden ist, als auch des Lohengrin , denen er nach Wagners Bericht sehr gewogen war (ML 360). Tiecks Tannenhäuser -Erzählung hat übrigens schon dreißig Jahre vor Wagner Clemens Brentano auf die Idee einer Oper gebracht, die er gerne zusammen mit Carl Maria von Weber geschrieben hätte. Davon hat auch Tieck gewusst, und er mag es Wagner bei ihrem Gespräch erzählt haben.
In Eine Mittheilung an meine Freunde (1851) hat Wagner freilich behauptet, die entscheidenden produktiven Anregungen zum Tannhäuser doch nicht aus den modernen dichterischen Bearbeitungen des Sto ff s – von Tieck und Ho ff mann – empfangen zu haben, sondern »aus dem Volksbuche und dem schlichten Tannhäuserliede« (GS IV, 269). Mit diesem Lied meint er o ff enbar das Gedicht aus Arnims und Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn . Wagner wird es in Heines Essay Elementargeister (1837) gelesen haben, wo es in voller Länge abgedruckt ist. Dass der Heine-Kenner und – wie seine
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