Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
1858).
Weit weniger überschwenglich war vielfach das Urteil der Fachkritik. Ein Punkt, der in den negativen Kritiken regelmäßig wiederkehrt, ist das, was ein Dresdener Kritiker 1844 Wagners »unglaubliches Vergreifen der Tempi« nennt. Zumal der markante Kontrast zwischen schnellen und langsamen Sätzen sowie die polarisierenden Tempomodi fi kationen innerhalb der Sätze verstörten die Kritiker. In seinem Aufsatz Künstler und Kritiker (1846) hat Wagner sich mit der Kritik an seinem Mozart-Dirigierstil detailliert auseinandergesetzt. Den landläu fi gen Mozart-Dirigaten wirft er mangelnde Sensibilität gegenüber der Partitur und Unbekümmertheit um die Aufführungsgep fl ogenheiten zur Zeit Mozarts vor. So beruft er sich zur Verteidigung des sehr zügigen Tempos in seinem Dirigat der Figaro -Ouvertüre auf Friedrich Dionys Weber, den Komponisten und ehemaligen Direktor des Prager Konservatoriums, den er einige Jahre zuvor in Prag kennengelernt hatte: »dieser berichtete mir als Augen- und Ohrenzeuge der ersten Aufführung und der vorangehenden, von Mozart selbst geleiteten Proben des Figaro , wie der Meister z. B. das Zeitmaaß der Ouvertüre nie schnell genug habe erlangen können und wie er, um den Schwung derselben stets aufrecht zu erhalten, wo es nur irgend in der Natur des Thema’s lag, die Bewegung neu auffrischte.« (SS XII, 210) Eben das habe er, Wagner, sich zu eigen zu machen versucht.
Über zwanzig Jahre nach seinem Dresdener Artikel hat Wagner in seinem Traktat Über das Dirigiren (1869) – den Theodor W. Adorno in seiner fragmentarischen Theorie der musikalischen Reproduktion als den »bedeutendsten Beitrag, den Komponisten zur Theorie der Reproduktion geleistet haben« bezeichnet – seine Tempoauffassung gerade auch in Bezug auf Mozart ausführlich begründet. Wagners Grundthese lautet, dass nur »die richtige Erfassung des Melos‹« zum »richtigen Zeitmaass« führe und »daß unsere Dirigenten vom richtigen Tempo aus dem Grunde nichts wissen, weil sie nichts vom Gesange verstehen« (GS VIII, 274). Das gelte gerade für die Mozart-Interpretation, denn die Hauptmaxime von Wagners Mozart-Verständnis ist, dass seine Musik, auch die rein instrumentale, aus dem Geiste des Gesanges geboren ist. Wagner wehrt sich gegen das starre Festhalten an einem einmal eingeschlagenen Tempo. Schon in seinem Aufsatz Künstler und Kritiker richtet er an die Kritiker seines Mozart-Stils die rhetorische Frage: »Giebt es überhaupt der lebenvollen, fast in jedem anhaltenden Tempo doch so mannigfaltig charakteristisch bewegten Mozartischen Musik gegenüber eine geradezu verderblichere Forderung, als daß dieser mannigfaltige Ausdruck nie die mindeste Unterstützung durch seine Motivirungen des Zeitmaaßes erhalten dürfe?« (SS XII, 210) Deshalb verwirft Wagner auch Metronom-Angaben in der Partitur, wie er sie selbst anfänglich für opportun hielt, bis er am Beispiel der Tannhäuser -Aufführungen, die sich starr an seine Metronom-Angaben hielten, merkte, dass man mit der »Mathematik in der Musik« nicht weiterkomme und dass das Metronom die »Modi fi kationen« der Zeitmaße, ihre Nuancierung verhindere, die für Wagner das A und O der Tempofrage sind (GS VIII, 275).
Zu den interessantesten, wenngleich nicht zu Ende geführten Projekten der Dresdener Zeit gehört ein schon in Paris entworfener und 1843 fortgeführter Opernplan, der aber unvertont bleibt: Die Sarazenin (WWV 66). Sie ist eines von drei großen historisch-dramatischen Projekten der Dresdener Kapellmeisterjahre, dem Friedrich I. (WWV 76) und Jesus von Nazareth (WWV 80) folgen werden. Das erste dieser Projekte, eben Die Sarazenin , eine Hohenstaufenoper über Manfred, den Sohn Friedrichs II., wurde Ende 1841, nach Abschluss des Fliegenden Holländers , in Paris skizziert. Den uns vorliegenden ausführlichen Entwurf schrieb Wagner erst in Dresden nieder. Über seine Motivation zu diesem Sujet äußert Wagner in Mein Leben , das neu erwachte Interesse an der deutschen Geschichte, zumal die Lektüre von Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen (1823–25) habe ihn auf den Gedanken gebracht, die Gestalt des schon für das Verständnis der historischen Rolle des Cola di Rienzo so wichtigen »geistvollen Kaisers Friedrich II., dessen Schicksale meine höchste Teilnahme erweckten« (ML 221), im Bilde seines Sohnes Manfred zu beschwören. Dessen Biographie ist derjenigen Rienzis (Wagners Darstellung zufolge) in mancher Hinsicht recht ähnlich,
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