Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
das Herzstück seiner klassischen Lektüre bis zu seiner – die Hörer überwältigenden – Rezitation der Orestie in der Villa Angri bei Neapel im Jahre 1880. Im Gespräch mit Cosima am 24. Juni 1880 nennt er die Orestie »das Vollendetste in jeder Beziehung, religiöser, philosophischer, dichterischer, künstlerischer« (CT II, 552). Die wissenschaftliche Vermittlung des Historikers und Aischylos-Übersetzers Johann Gustav Droysen – dessen Übertragungen ihre poetischen Spuren bis in die sprachliche Faktur hinein in der Ring -Tetralogie hinterlassen haben – hilft ihm, »das berauschende Bild der athenischen Tragödienaufführungen so deutlich meiner Einbildungskraft vorzuführen, daß ich die Oresteia vorzüglich unter der Form einer solchen Aufführung mit einer bisher unerhört eindringlichen Gewalt auf mich wirken fühlen konnte. Nichts glich der erhabenen Erschütterung, welche der Agamemnon auf mich hervorbrachte; bis zum Schluß der Eumeniden verweilte ich in einem Zustande der Entrücktheit, aus welchem ich eigentlich nie wieder gänzlich zur Versöhnung mit der modernen Literatur zurückgekehrt bin. Meine Idee über die Bedeutung des Dramas und namentlich auch des Theaters haben sich entscheidend aus diesen Eindrücken gestaltet.« (ML 365)
Auch und gerade die Beschäftigung mit den germanischen und mittelalterlichen Sagensto ff en wird durch die altertumskundlichen Studien Wagners inspiriert, wie er in Mein Leben betont: »Um mich mit dem rechten Sinne den mir zum Ziel gesetzten alt- und mittelhochdeutschen Studien zu nähern, begann ich von neuem mit dem griechischen Altertum« (ML 353). Es ist eben die Zeit, da er an der Vollendung des Lohengrin arbeitet. Und bezeichnenderweise ist es der Altphilologe Samuel Lehrs, der Wagner die ersten sto ff lichen Anregungen zu Tannhäuser , Lohengrin und den Meistersingern gegeben hat. Dass nahezu alle musikalischen Dramen Wagners – zumal der Ring des Nibelungen – die Sto ff e, Konstellationen und Gehalte des griechischen Mythos durch ihr germanisch-mittelalterliches Gewand wie auf einem Palimpsest durchscheinen lassen, ist somit kein Wunder.
Die bedeutendsten und folgenreichsten Dresdener Pionierleistungen des Hofkapellmeisters Wagner sind seine Beethoven-Dirigate, vor allem die Wiederaufführung der neunten Symphonie 1846/47 und im Revolutionsjahr 1849, als deren eigentlicher Entdecker für das Konzertleben er bezeichnet werden kann. Wagner hat einen Bericht über die Aufführung der neunten Symphonie von Beethoven im Jahre 1846, nebst Programm dazu verfasst, der die Vorbereitung und Ausführung der epochemachenden Aufführung eingehend beschreibt, auch schon seine gegen eine »Buchstaben-Pietät« (GS II, 53) aufbegehrenden Retouchen in Vortrag und Instrumentation, die er in seiner bedeutendsten praktisch-musikalischen Schrift Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethoven’s (1873) später detailliert begründen wird. In seinem »Programm« kommentiert Wagner die Satzfolge der Neunten mit Versen aus Goethes Faust , übersetzt sie in poetische Sprache, zu der sie sich im vierten Satz von sich aus erhebt. Die neunte Symphonie hat für Wagner sein Leben lang eine paradigmatische Rolle gespielt, da er in der Wortwerdung der ›absoluten Musik‹ im chorischen Finale den Brückenschlag zum musikalischen Drama sah. Deshalb wird er auch die neunte Symphonie anlässlich der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses 1872 im Markgräflichen Opernhaus programmatisch zur Aufführung bringen: als geistiges Pendant, ästhetische Parallelaktion zu jener Grundsteinlegung.
Auch als Mozart-Dirigent hat Wagner innerhalb seines reichen Dresdener Kapellmeister-Repertoires neue Zeichen gesetzt, die freilich bei der Kritik immer wieder auf Reserven gestoßen sind. In Dresden und andernorts hat er fast alle großen Opern Mozarts auf die Bühne oder in Ausschnitten aufs Konzertpodium gebracht. Von Don Giovanni wird er in Zürich 1850 sogar eine – leider verschollene – neue Fassung mit einer eigenen Übersetzung des Librettos erstellen und dirigieren. Für den jungen Hans von Bülow gehörten die von Wagner zwischen 1843 und 1849 an der Dresdener Hofoper geleiteten Mozart-Aufführungen zu seinen »schönsten musikalischen Erinnerungen. Es sind die ergreifendsten, mächtigsten Eindrücke gewesen, deren ich mich erfreut, ganz abgesehen davon, daß ich Aufführungen in solcher Vollendung wie damals nirgends wieder gehört habe« (so in einem Brief vom 31. März
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