Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
kann, also auf den Nährboden des »Volksgeistes«, aus dem nach Wagner alle lebendige Dramatik hervorgeht. Der Züricher Plan fi ndet sein Gegenstück in Gottfried Kellers Aufsatz Am Mythenstein (1861), der sich an einer Stelle ausdrücklich, wenn auch nicht unkritisch auf Wagner bezieht, dessen Züricher Kunstschriften der Schriftsteller genau kannte und von denen zumindest Ein Theater für Zürich Kellers eigene Theater- und Festspielutopie deutlich beein fl usst hat. Wie Wagner entwirft Keller, angeregt durch die Schillerfeier an dem Naturdenkmal des Vierwaldstätter Sees und als theaterutopisches Pendant zur farbigen Schilderung des Wilhelm-Tell-Spiels in seinem Roman Der grüne Heinrich (1854/55), eine alle Künste vereinigende republikanische Olympiade, welche die Schiller-Landschaft beim Rütli – die auch Wagner geradezu systematisch erwandert hat, mit dem Höhepunkt des neuen Rütli-Schwurs zusammen mit seinen Freunden Herwegh und Liszt – in eine patriotische Festwiese verwandelt; sie gemahnt schon an Wagners Meistersinger von Nürnberg , deren Festwiese im Schlussakt ihrerseits vom Sechseläuten, dem Züricher Frühlingsfest, inspiriert ist.
In seinem Theater für Zürich verweist Wagner wie Keller in Opposition gegen das abgebrühte großstädtische Repertoiretheater, zumal die »große Oper« mit ihrem »von Langeweile und Genußsucht getrieben[en]« Publikum (GS V, 31), auf die volkstümlichen Spiel-, Turn-, Gesangs- und Theater-Traditionen der Schweiz (wie eben die Tellspiele). Ein solches in lokalen Traditionen, »Volkssitte« und »Volksspiel« verankertes Theater (GS V, 47 f.) würde aufhören, »eine industrielle Anstalt zu sein, die um des Gelderwerbes willen ihre Leistungen so oft und dringend wie möglich ausbietet« (GS V, 49). Ziel eines dergestalt verwandelten, zudem nicht mehr an der Luxuskunst der Oper, sondern an Struktur und Ethos der dramatischen Dichtung orientierten Theaters wäre die Integration der Kunst ins gesellschaftliche Ganze. »Die Kunst ist nur dann das höchste Moment des menschlichen Lebens, wenn sie kein von diesem Leben abgetrenntes, sondern ein ihm selbst nach der Mannigfaltigkeit ihrer Kundgebung vollständig inbegri ff enes ist.« Und optimistisch verkündet Wagner: »Wir sind dieser gesellschaftlichen Vermenschlichung der Kunst oder dieser künstlerischen Ausbildung der Gesellschaft näher, als wir glauben« (GS V, 46 f.). Die volkstümliche Spielkultur der Schweiz, die ihrer Landschaft organisch entwachsen ist, wird für Wagner immer das ideale Ambiente des von ihm ersehnten Theaters sein – bis hin zu den Bayreuther Festspielen. Noch mit dem Namen Bayreuth verbindet sich ihm eine Reminiszenz an die Schweiz. In seinem Aufsatz Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth (1873) verweist er auf die etymologische Verwandtschaft von »Reuth« – d. i. Rodung, Reutung, also »der Wildnis abgerungene, urbar gemachte Stätte« – mit dem Rütli der Urschweiz: »um dem Namen eine immer schönere und ehrwürdigere Bedeutung abzugewinnen« (GS IX, 332).
Wagners Projekt eines Theaters für Zürich ist das Produkt seiner Kunstschriften der Jahre 1849–51, in deren Mittelpunkt die Trias Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1849) und – das theoretische Hauptwerk Wagners – Oper und Drama (1850/51) steht. Sie und die sie umrankenden anderen Schriften und theoretischen Fragmente dieser frühen Exiljahre sowie die Rechtfertigungsschrift Eine Mittheilung an meine Freunde (1851), welche die theoretische Reformarbeit zum Abschluss bringt, sind das Baugerüst der gesamten Musikdramatik der kommenden Jahre, ein vollständiger Neubeginn von Wagners Opernscha ff en, das er mit dem Genre »Oper« gar nicht mehr in Verbindung bringen möchte. Und sie sind von A bis O bestimmt von der Idee der von ihm so genannten »antiken Kunstform« (GS IV, 27) und deren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Modellhaftigkeit für die moderne dramatische Kunst. Erst als Folge seiner Schopenhauer-Rezeption seit 1854 verliert die antike Kunstform ihre absolute Bedeutung, wird sie zumal relativiert durch die paradigmatische Bedeutung des Shakespeareschen Dramas, das, rein als Form betrachtet, für den Wagner der frühen Züricher Zeit noch hinter der griechischen Tragödie zurücksteht. Die erste der großen Reformschriften – Die Kunst und die Revolution – ist ein Rückblick und Rückgri ff auf die »Kunst der Griechen« (GS III, 9) im Geiste der modernen Revolution.
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