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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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vorausweisenden, rein instrumentalen »zarten Schluß« seiner Faust-Symphonie (1854) später (1857) »in einer mehr auf das Prunkende hinauslaufenden Weise, durch den Eintritt von Chören« umarbeitete (SS XV, 120 f.). Von Liszts Spätwerk hat Wagner sich abgewandt, ja die letzten experimentellen Klavierkompositionen, in denen die Moderne ihre Schatten vorauswirft, waren ihm nur noch Missgetön. Er hatte seinen Avantgardismus hinter sich und konnte dem Greisen-Avantgardismus seines Freundes nichts mehr abgewinnen (vgl. CT II, 1059; 28. November 1882).
    Das Liebesverhältnis zwischen Wagner und Liszts Tochter Cosima führte vorübergehend zum Abbruch ihrer persönlichen Beziehungen. Doch nicht nur der Ehebruch des Freundes hatte eine tiefe Entfremdung zwischen Liszt und Wagner zur Folge – der Briefwechsel endet schon 1861 –, sondern die zunehmende persönliche Distanz in den 1860er Jahren wurde mitgeprägt von einem tiefgreifenden politisch-kulturellen Dissens. Liszt fühlte sich als Europäer vor allem dem französischen Sprach- und Kulturraum zugehörig. Er verehrte Napoleon III., unter dessen Herrschaft sein Schwiegersohn Émile Ollivier, der mit der ältesten Tochter Liszts und Marie d’Agoults verheiratet war, zum Ministerpräsidenten aufstieg und am 15. Juli 1870 die Kriegserklärung an Preußen verkündete. Liszt stand in diesem Krieg ganz auf französischer Seite; mit Frankreichs Niederlage und dem Sieg des preußisch dominierten deutschen Reichs brach seine Welt zusammen. Es war die Welt eines von Katholizismus – er hatte 1865 in Rom die niederen Weihen angenommen und war Abbé geworden – und französischer Kultur bestimmten, christlich-romanischen und doch zugleich aufgeklärt-weltbürgerlichen Europa. Und ein Herzstück dieses kosmopolitischen Europa war für ihn auch das klassische Weimar.
    Abb. 15 : Cosima Wagner (1837–1930), geborene de Flavigny

    Doch diesem Wertsystem stand die Haltung Wagners und Cosimas, Liszts 1870 mit Wagner protestantisch verheirateter, 1872 zum Protestantismus konvertierender Tochter, schro ff entgegen. Beide schlugen sich uneingeschränkt auf die preußische Seite, bekannten sich zu einer rigoros anti-französischen und anti-katholischen Haltung. Die Tagebücher Cosimas aus dieser Zeit sind häu fi g von Herablassung, ja Geringschätzung gegenüber Liszt, der Persönlichkeit wie dem Komponisten, geprägt. Er ist für das Ehepaar Wagner nur noch Ancien régime, »der Illustrator einer untergehenden Welt« und Repräsentant eines im Krieg »nun verschwundenen Paris«, wie Wagner am 12. Oktober 1871 zu Cosima sagt (CT I, 448). Wirklich endete für Liszt mit dem Deutsch-Französischen Krieg eine Epoche europäischer Kultur; die Zeit der Apotheosen und des menschheitsoptimistischen Triumphalismus – im Stil seiner Werke der Weimarer Jahre und danach – war für ihn vorbei. Er zog sich am Ende, in seinen späten aphoristischen Klavierstücken – asketischen Kompositionen für das luxuriöse Instrument, welches ihn einst als umschwärmten Virtuosen in eine Welt des Glanzes entführte hatte –, in eine herbe Tonsprache am Rande des Verstummens zurück.
    In Wagners letztem Lebensjahrzehnt hat Liszt sich nach jahrelanger Distanz – die freilich nie sein Engagement für Wagners Werk beeinträchtigt hat, wie seine Klaviertranskriptionen auch in dieser Zeit zeigen – wieder altersweise mit ihm versöhnt. Als Liszt 1886 während der Festspiele in Bayreuth verstarb – was vor dem Publikum verborgen gehalten wurde (im Sinne von »the show must go on«) –, hatten sich die Zeichen des Ruhms verkehrt: der einst so glänzend leuchtende ›Star‹ am europäischen Gesellschafts- und Musikhimmel verschwand unauffällig im Dunkel hinter dem Horizont, an dem der Stern Wagners, den er einst aus dem Dunkel heraufgeführt hatte, nun heller denn je leuchtete.

Exil in Zürich und Vision des »Kunstwerks der Zukunft«
    Als Wagner Ende Mai 1849 in Zürich eintri ff t, ahnt er nicht, dass
er bis 1861 keinen deutschen Boden mehr betreten wird. Erst am 28. März 1862 sollte er – auch für Sachsen – voll amnestiert werden. Durch den mit Wagner politisch sympathisierenden Staatsschreiber Johann Jakob Sulzer (der noch bis in die Bayreuther Zeit mit Wagner befreundet ist und 1882 an den Festspielen teilnimmt) erhält er nach seiner Ankunft in Zürich einen Schweizer Pass, mit dem er sich gleich über Straßburg (wo er das Münster bewundert) auf den Weg nach Paris macht, um hier nach den

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