Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Mit breitem Pinsel malt Wagner das Bild des attischen Tragödientags und seines vieltausendköp fi gen Publikums: des »von der Staatsversammlung, vom Gerichtsmarkte, vom Lande, von den Schi ff en, aus dem Kriegslager, aus fernsten Gegenden« im Amphitheater zusammenströmenden Volks, das sich vor dem »gewaltigsten Kunstwerke«, der aischyleischen Tragödie, »zu sammeln, sich selbst zu erfassen, seine eigene Thätigkeit zu begreifen« und eins mit dem »Gesammtwesen der ganzen Nation« zu sein strebt (GS III, 11 f.). Den »Verfall der Tragödie« führt Wagner auf die »Auflösung des athenischen Staates« zurück. »Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesammtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegri ff enen Kunstbestandtheile auf: auf den Trümmern der Tragödie weinte in tollem Lachen der Komödiendichter Aristophanes« (GS III, 12), dessen Komödie Die Frösche ja der Abgesang auf die aischyleische Tragödie ist. Hier taucht also der berühmte Terminus »Gesamtkunstwerk« auf, dessen Idee, die Synthese der Künste, schon in der romantischen Kunsttheorie eine bedeutende Rolle gespielt hat (auch das Wort selber kommt schon 1827 in der Ästhetik des spätromantischen Philosophen Trahndor ff vor), der aber bei Wagner nun eine neue politische Bedeutung erhält.
Schro ff setzt er die griechische Tragödie dem modernen Theater und der modernen Welt entgegen, deren Gott nicht mehr Apollon (der für ihn merkwürdigerweise der Gott auch der Tragödie ist), sondern Merkur, der »heilig-hochadelige Gott der fünf Procent« ist. Die Moderne wird also von »Geldspekulation«, vom Geist der »Industrie« beherrscht; ihr »ästhetisches Vorgeben« aber ist die »Unterhaltung der Gelangweilten«, des juste milieu (GS III, 19). »In den weiten Räumen des griechischen Amphitheaters wohnte das ganze Volk den Vorstellungen bei; in unseren vornehmen Theatern faulenzt nur der vermögende Theil desselben.« (GS III, 24) Der Geist des Griechen lebte in der »Ö ff entlichkeit«, der moderne Kunst-»Barbar« hingegen zieht sich hinter die »prachtvollen Wände« seines »Privatpalastes« zurück (GS III, 26). Die wahre Kunst kann zu den ästhetischen und sozialen Verhältnissen der Moderne nur in ein revolutionäres Verhältnis treten. Konnte die Kunst bei den Griechen noch »konservativ« sein, »weil sie dem ö ff entlichen Bewußtsein als ein gültiger und entsprechender Ausdruck vorhanden war«, so muss sie nach ihrer höchsten Bestimmung bei uns »revolutionär« sein, »weil sie nur im Gegensatze zur gültigen Allgemeinheit existirt« (GS III, 28). Die wahre Kunst kann mithin nur auf den Schultern der »sozialen Revolution« (GS III, 40) wieder ins Leben treten.
Welche Gestalt aber diese Kunst haben soll und wird, das ist das Thema der zweiten, umfassenderen Züricher Kunstschrift Das Kunstwerk der Zukunft , die Wagner mit einer ausführlichen Widmung an Ludwig Feuerbach (1804–1872) versehen hat (SS XII, 284 f.). Feuerbach galt ihm in dieser Zeit, wie er in Mein Leben schreibt, »als Repräsentant der rücksichtslos radikalen Befreiung des Individuums vom Drucke hemmender, dem Autoritätsglauben angehörender Vorstellungen« (ML 443). Seine revolutionsbejahende politische Haltung, seine a ffi rmative Philosophie der Sinnlichkeit, die Kritik des Christentums und der spekulativen Philosophie sowie die anthropologische Deutung der Religion haben deutliche Spuren in Wagners Schriften im Umkreis der Revolution ausgeübt, so auch noch im ursprünglichen Schluss der Ring- Tetralogie. Seit seiner Konversion zu Schopenhauer wollte Wagner von diesen Ein fl üssen freilich nicht mehr allzu viel wissen und tilgte die Widmung an Feuerbach in den späteren Auflagen von Das Kunstwerk der Zukunft.
Die »bedingende Kraft« dieses Kunstwerks, so die Grundüberzeugung Wagners, wird das »Volk« sein (GS III, 50), und wir müssen auf die »griechische Kunst« blicken, »um aus ihrem innigen Verständnisse zu entnehmen, wie das Kunstwerk der Zukunft bescha ff en sein müsse« (GS III, 62). Was aber die griechische Kunst auszeichnet, ist vor allem die Tatsache, dass hier »die drei reinmenschlichen Kunstarten in ihrem ursprünglichen Vereine« anzutre ff en sind: »Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst« (GS III, 67). Wagner rekurriert o ff enkundig auf den griechischen Begri ff der musiké , der Wort, Ton und rhythmische Bewegung in gleicher Weise bezeichnet. »Wir haben
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