Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
uns gewöhnt«, heißt es in seinem Aufsatz Über musikalische Kritik (1852), »unter ›Musik‹ nur noch die Tonkunst […] zu begreifen: dass dies eine willkürliche Annahme ist, wissen wir, denn das Volk, welches den Namen ›Musik‹ erfand, begri ff unter ihm […] alle künstlerische Kundgebung des inneren Menschen überhaupt« (GS V, 59 f.). Deren Einheit ist aber in der Moderne ebenso in isolierte Einzelkünste auseinandergefallen, wie die Menschen aus Gemeinschaftswesen zu isolierten Monaden, zu Egoisten geworden sind. »Wie aus dem Thurmbau zu Babel die Völker, als ihre Sprachen sich verwirrten […], sich schieden, um jedes seinen besonderen Weg zu gehen: so schieden sich die Kunstarten, als alles Nationalgemeinsame in tausend egoistische Besonderheiten sich zersplitterte« (GS III, 76).
Nur wenn die »herrschende Religion des Egoismus« (GS III, 123) überwunden wird, kann auch das verlorene Gesamtkunstwerk, das »in das ö ff entliche politische Leben eintretende Volkskunstwerk« (GS III, 104) wiedergeboren werden. »Nur aus gleichem, gemeinschaftlichem Drange aller drei Kunstarten kann aber ihre Erlösung in das wahre Kunstwerk, somit dieses Kunstwerk selbst erst ermöglicht werden. Erst wenn der Trotz aller drei Kunstarten auf ihre Selbständigkeit sich bricht, um in der Liebe zu den anderen aufzugehen; […] erst wenn sie selbst als einzelne Künste aufhören, werden sie alle fähig, das vollendete Kunstwerk zu scha ff en« (GS III, 122). Das gilt auch für die bildenden Künste, die nicht nur unter sich zu einer neuen Einheit zusammen fi nden, sondern ihre »Erlösung« im »höchsten gemeinsamen Kunstwerk«, nämlich dem »Drama« erstreben müssen (GS III, 150), so die Architektur im Theaterbau, die Malerei im Bühnenbild und die Plastik in der mimisch-gestischen Kunst des sprechenden, singenden oder tanzenden Darstellers. Diese »Erlösung der Plastik« gleiche dem Wunder der belebten Statue Pygmalions: »der Entzauberung des Steines in das Fleisch und Blut des Menschen, aus dem Bewegungslosen in die Bewegung« (GS III, 140). Dieser Totalitätsanspruch des (musikalischen) Dramas hat Wagner die meisten Feinde unter den Künstlern verscha ff t. Das Kunstwerk der Zukunft hat eine Zeitlang jedenfalls mehr, wenngleich negativ Furore gemacht als seine Opern, und »Zukunftsmusik« wurde die aus dem Titel der Schrift abgeleitete beliebteste Spottvokabel der Gegner von Wagners Kunst.
Das letzte Kapitel der Schrift trägt den Titel »Der Künstler der Zukunft«. Seine These lautet: wie die Menschen aus isolierten Individuen wieder eine Gemeinschaft werden und die Künste wieder zum Gesamtkunstwerk zusammentreten müssen, so auch die Künstler zur »Genossenschaft aller Künstler« (GS III, 160 f.). Diesen Gedanken hat Wagner in einer unpublizierten Reihe von Aufzeichnungen über Das Künstlertum der Zukunft ausführlicher entfaltet. Die Zeit der »vereinzelten Genies« sei vorbei, heißt es da, »alle werden am Genie teilhaben, das Genie wird ein gemeinsames sein« (SS XII, 264).
Wagners Kunstwerk der Zukunft schließt mit dem dramatischen Entwurf Wieland der Schmiedt (WWV 82), einem revolutionären Künstlerdrama, dessen Motivik sowohl auf die romantischen Opern Wagners (zumal Lohengrin ) zurück- als auch auf den Ring des Nibelungen vorausweist. Sein Titelheld, der im Dienst der Mächtigen geknechtete und geschändete Künstler – die germanische Variante des griechischen Kunstschmieds Dädalus –, scha ff t sich schließlich Flügel: das alte Symbol der poetischen Phantasie (denken wir an das ge fl ügelte Musenross Pegasus), um sich über die Welt der Unfreiheit und Niedertracht zu erheben. Wagner stellt in der Gestalt Wielands die tragische Situation des modernen Künstlers dar, der sich der Eigengesetzlichkeit seiner Kunst bewusst ist und diese doch fremden Zwecken unterwerfen muss, ja von den Herrschenden, in welcher Gestalt sie auch immer auftreten, ausgebeutet wird. »Er, der freie, künstlerische Schmiedt, der aus Lust und Freude an seiner Kunst, die wundervollsten Geschmeide schuf«, so Wieland, »hier muß er, geschändet und beschimpft, an seinen eigenen Ketten schmieden.« (GS III, 197) König Neiding bekennt: »traurig ist ein Herrscher, dem solch ein Künstler fehlt: er giebt zur Macht erst den Genuß.« (GS III, 196) Doch Wieland durchschaut das Geschick des Künstlers im Dienste der Macht: »Wie gut würd’ ich’s wohl bei dir haben? Vielleicht wie ein Vogel, den du im Walde
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