Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Präsenz eines deutschen Revolutionärs nicht ratsam erscheinen; am 1. Februar 1859 fl attert ihm ein Ausweisungsbefehl ins Haus. Zwar kann er eine Fristverlängerung erwirken, um den zweiten Aufzug des Tristan noch abzuschließen, doch am 24. März muss er Venedig verlassen.
Abb. 20 : Der Palazzo Giustiniani in Venedig
Wieder wird ihm die Schweiz zur Zu fl ucht. In Luzern komponiert er im Sommer 1859 den dritten Akt des Tristan und macht in dieser Zeit unbefangen zweimal einen Besuch bei Wesendoncks in Zürich, wo er auch die alten Freunde Herwegh, Keller und Semper wiedersieht. Im September übersiedelt er nach Paris, das bis Ende Juli 1861 sein Hauptwohnsitz ist. (In die neue Pariser Zeit fallen freilich diverse Reisen, so die erste Reise nach Deutschland seit seiner Teilamnestierung im August 1860.) Ende Januar und Anfang Februar 1860 dirigiert er in Paris drei Konzerte mit eigenen Werken, die ihm zwar bei Publikum und Komponistenkollegen (Saint-Saëns, Gounod) beachtlichen Erfolg bescheren – sie bilden auch die Initialzündung für den »Wagnérisme« Baudelaires –, aber fi nanziell keinen Gewinn, sondern ein hohes De fi zit nach sich ziehen. All seine Ho ff nungen setzt Wagner nun auf die französische Erstaufführung des Tannhäuser an der Pariser Opéra . Der Plan, das Werk in französischer Übersetzung in Paris herauszubringen, reicht bis ins Jahr 1857 zurück. Nach einigen Verzögerungen ordnet Napoleon III. Mitte März 1860 die Aufführung persönlich an.
Wagner hat nicht nur detailliert an der französischen Übersetzung des Textes mitgewirkt, um sprachliche und musikalische Artikulation vollkommen in Einklang zu bringen, sondern (neben zahlreichen Detailänderungen bis kurz vor der Aufführung) die Venusbergszenen teilweise neu gedichtet und komponiert. Die Forderung einer Balletteinlage im zweiten Aufzug – conditio sine qua non einer Opernproduktion an der Pariser Opéra – hat er anfänglich verworfen, aber er ist ihr dann doch durch das »Bacchanal« im ersten Aufzug entgegengekommen. Das sollte freilich für die Salonlöwen des publikumsbeherrschenden Pariser Jockey-Clubs – der das Ballett im zweiten Aufzug sehen wollte, da er nach dem obligatorischen Diner grundsätzlich zu spät in die Oper kam – der Anlass für die berüchtigte Störung der Aufführung durch Lärm und Trillerpfeifen sein.
Im September schreibt Wagner (»als Vorwort zu einer Prosa-Übersetzung meiner Operndichtungen«) die zweite seiner großen autobiographischen Rechtfertigungsschriften (nach Eine Mittheilung an meine Freunde ), nun für das französische Publikum: »Zukunftsmusik«. Sie bietet nicht nur einen Rückblick auf sein bisheriges dramatisches Werk, sondern fasst auch seine Züricher Reformschriften nach ihrem theoretischen Gehalt zusammen. Doch Wagner erweitert sie durch neue Aspekte, die zeigen, dass er gegenüber Oper und Drama der Musik, zumal durch die Idee der »unendlichen Melodie«, stärkere Autonomie zuspricht, sie weniger an die – sie motivierende – Dichtung bindet, es sei denn an deren Schweigen. »In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie .« (GS VII, 130) Hier klingt Wagners Wort von der »Kunst des tönenden Schweigens« nach, mit dem er im venezianischen Tagebuch für Mathilde Wesendonck am 12. Oktober 1858 seinen Tristan charakterisiert. ›Unendlich‹ ist die Melodie dadurch, dass in ihr die Trennung der ›Nummern‹ (Arie, Duett, Ensemble usw.) beseitigt, das Rezitativ zum Verschwinden gebracht und der Dialog durchkomponiert ist sowie die geradtaktige Periode und die syntaktischen Floskeln und Kadenzformeln der konventionellen Satztechnik aufgehoben sind.
Am 13. März 1861 fi ndet nach 146 Proben die Uraufführung des Tannhäuser an der Pariser Opéra statt. Sie sollte Wagner endlich den Durchbruch in Paris und damit in der internationalen Musikwelt bescheren, doch sie wird durch den im voraus kalkulierten Tumult des Publikums zu einem der spektakulärsten Skandale der Operngeschichte. Als auch die beiden folgenden Aufführungen massiv gestört werden, zieht Wagner sein Werk zurück und verlässt Paris – einmal mehr dort am Boden zerstört. Nach dem Tannhäuser- Eklat reist er im März 1861 über
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