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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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»Wahn« enthüllt werden: »Ehre«, »Ruhm«, »Glanz«, »Sitte« (VII, 39 u. ö.) – das ganze Tugendsystem des ritterlichen Lebens. Das Mysterium der Liebe und die Frau, an der es ihm aufging, vermochte er nicht anders zu fassen als in den Vorstellungen hö fi scher Lebensfestlichkeit. Daher entrückte ihm Isolde nach seinen Worten »dahin, wo sie / der Sonne glich, / in höchster Ehren / Glanz und Licht«. Wie konnte er also noch glauben, dass sie ihm beschieden sei, dass die Frau, die »der Ehre Glanz, des Ruhmes Macht« (GS VII, 39) so vollkommen für ihn verkörperte, einem anderen gehören könnte als dem Ranghöchsten!
    Diesem »Wahn« wird Tristan mit einem Schlage durch den vermeintlichen Todestrank entrissen. Sie habe ihm den Trank gereicht, bekennt Isolde Tristan, um ihn mit sich in die alle Wahrheit o ff enbarende, aller Täuschung eine Ende bereitende Todesnacht zu ziehen.
    Das als Verräther
Dich mir wies,
Dem Licht des Tages
Wollt’ ich ent fl ieh’n,
dorthin in die Nacht
dich mit mir zieh’n,
wo der Täuschung Ende
mein Herz mir verhieß,
wo des Trug’s geahnter
Wahn zerrinne;
Dort dir zu trinken
Ew’ge Minne,
mit mir – dich im Verein
wollt’ ich dem Tode weih’n. (GS VII, 41)
    Erst im Angesicht der Nacht des Todes, vor der aller Schein schwindet, alle Rücksichten auf die Tageswelt des ritterlichen Tugendsystems in Bedeutungslosigkeit versinken, ist das O ff enbarwerden der Liebe Tristans und Isoldes möglich. In totaler Umwertung der Werte wird der Tag zur Sphäre der Lüge, die Nacht aber zum Schoß der Wahrheit. »Ruhm und Ehr’, / Macht und Gewinn« (GS VII, 43) sind für Tristan nun ebenso wesenlos wie für Isolde die verletzte Würde ihrer Person, sie werden verzehrt von der Sehnsucht nach der »Ew’gen Nacht« (GS VII, 50) des Liebes-Todes, welche die Trennung von Ich und Du aufhebt. Tristan und Isolde sind für immer »Nacht-geweihte« (GS VII, 43).
    O sink’ hernieder
Nacht der Liebe,
gieb Vergessen,
daß ich lebe;
nimm mich auf
in deinen Schooß,
löse von
der Welt mich los. (GS VII, 44)
    Die Nacht ist das Symbol des Todes, der die Individuation aufhebt, die Unterschiedslosigkeit von Ich und Du o ff enbart. Der Mythos der Nacht – als Gegenwelt zur Verstandeshelle des Tages, zur ›Aufklärung‹, welche ihrem Selbstverständnis nach eine Bewegung im Licht oder ins Licht bildet – ist eine Schöpfung der deutschen Frühromantik, zumal der Hymnen an die Nacht von Novalis. In Tristan und Isolde ist die romantische »Nachtbegeisterung« (Novalis) im Medium der Philosophie Schopenhauers gebrochen, und diese wird umgekehrt in eine romantische Symbolik übertragen, durch die sie eine bedeutende Sinnwandlung erfährt. Die Nacht wird zum Nirwana, zum Reich des »Ur-Vergessens« (GS VII, 61), das nicht im Sinne Schopenhauers durch die Verneinung, sondern durch die Steigerung und Sublimierung des Eros erreicht wird. Nicht Entsagung, nicht die asketische Verneinung des Willens ist das Höchste, sondern dessen Entzückung und Erlösung. Diese Wendung gegen Schopenhauer, die doch aus dem Zentrum seiner Philosophie heraus gedacht ist, hat Nietzsche durchschaut, wenn er in einer nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1875 bemerkt: »Die Liebe im Tristan ist nicht schopenhauerisch, sondern empedokleisch zu verstehen«, d. h. im Sinne der Philosophie des Vorsokratikers Empedokles als »Anzeichen und Gewähr einer ewigen Einheit« (SW VIII, 191).

Unbehauste Jahre
    Mit dem Verlassen des Züricher »Asyls« und der Reise nach Venedig im August 1859 beginnen erneute, von Rück- und Fehlschlägen geprägte Irr- und Wanderjahre Wagners ohne festen häuslichen Halt. Aufgrund seines trotz aller Not stets zu aufwendigen Lebensstils und seiner fast immer de fi zitären Konzerttätigkeit ist er zudem ständig von Schulden und Gläubigern geplagt. In Venedig quartiert er sich im Palazzo Giustiniani am Canal Grande ein, wo er bis zur Vollendung der Partitur des zweiten Tristan- Akts im März 1859 wohnt, in einer wie immer von ihm erlesen eingerichteten Wohnung, mit seinem eigens angelieferten geliebten Erard-Flügel, der heute in Tribschen steht. Trotz des poetischen Ambientes der Lagunenstadt fühlt er sich vereinsamt und abgeschoben. Im österreichisch verwalteten Venedig wird er als streckbrieflich verfolgter Revolutionär observiert. Die Auseinandersetzungen zwischen den
italienischen Patrioten unter Führung von Cavour und Garibaldi
und der österreichischen Besatzung lassen in deren Augen die

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