Richter 07
Tod ging oder gar um wichtige Staatsgeschäfte! Er mußte diesen schurkischen Kunsthändler noch einmal vernehmen, wenn notwendig unter Anwendung gesetzlicher Foltermittel, dann den Vater des Akademikers aufsuchen. Er mußte, ja er mußte …
Er wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn, denn es war drückend heiß in diesem Zimmer, und die qualmende Kerze roch schauderhaft. Er sammelte alle seine Kräfte. Keinen übereilten Entschluß durfte er fassen, sondern mußte zunächst den logischen Ablauf der Ereignisse rekonstruieren. Als der Akademiker seinen Entschluß gefaßt und der Blumenkönigin das Päckchen übergeben hatte, beging er den Selbstmord darum nicht, weil er, bevor es dazu kommen konnte, von dem Mädchen, das er zu vergewaltigen versuchte, getötet wurde. Der Richter schlug mit der Faust auf den Tisch. Das war der reine Unsinn! Ein zum Selbstmord entschlossener Mensch sollte versucht haben, sich an einem Mädchen zu vergehen! Er wies den Gedanken weit von sich, daß so etwas möglich wäre!
Doch der Brief konnte keine Fälschung sein. Und daß der Akademiker sich zur Aufgabe des Vorhabens durchgerungen hatte, wurde durch die Aussage bewiesen, die Kia Yu-po Ma Jung gegenüber gemacht hatte. Auch Herbstmonds Versäumnis, den ihr anvertrauten Brief weiterzugeben, war durchaus verständlich. Welcher Art ihr Verhältnis zum Akademiker auch gewesen sein mochte, sie war, sobald ihr Anbeter tot war, schon von ihrer nächsten Eroberung vollständig in Anspruch genommen, nämlich der seines lebenslustigen Kollegen Lo. Sie hatte den ungeöffneten Umschlag einfach in ihre Schublade geworfen und alles vergessen – bis zu dem abendlichen Festmahl, wo Los Versagen bei ihr ein schmerzliches Erinnern an den toten Bewunderer hervorrief. Einige Tatumstände fügten sich zusammen, andere nicht. Er verschränkte seine Arme in den weiten Ärmeln. Die buschigen Augenbrauen zu einer tiefen Falte zusammengezogen, so starrte er auf die üppige Bettstatt, wo die Blumenköniginnen Jahr um Jahr sich mit ihren ausgewählten Liebhabern vergnügt hatten.
Von neuem überdachte er alles, was er über die in die drei Todesfälle verwickelten Personen wußte, die sich drüben in dem anderen Schlafzimmer des Roten Pavillons zugetragen hatten. Er versuchte, sich die genauen Worte ins Gedächtnis zurückzurufen, die Feng Dai und seine Tochter Jadering gesagt hatten. Auch Wen Yüajns Teilgeständnis und die von Ma Jung eingeholten zusätzlichen Nachrichten ließ er im Geiste vorüberziehen. Abgesehen von der fragwürdigen Version, der Akademiker habe am Vorabend seines beabsichtigten Selbstmords ein Mädchen zu vergewaltigen getrachtet, waren die Umstände seines Todes zufriedenstellend erklärt. Nachdem Fräulein Feng den Mann in der Notwehr getötet hatte, war ihr Vater daran gegangen, einen Selbstmord vorzutäuschen. Die Kratzer an den Händen und im Gesicht des Akademikers waren durch Fräulein Feng verursacht, allein die Schwellungen an seinem Hals blieben unaufgeklärt. Was Herbstmonds Tod anbelangte, so rührten ihre Kratzer von Silberfee her, als sie sich gegen die boshaften Schläge der Blumenkönigin zur Wehr setzte. Auch in ihrem Fall blieb das Rätsel um die blauen Schrammen an ihrem Hals ungelöst. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß das Geheimnis des Roten Zimmers aufzudecken wäre, sobald diese beiden ungeklärten Umstände auf ihren wahren Ursprung zurückgeführt würden.
Plötzlich hatte er eine Erleuchtung. Er sprang auf und durchmaß den Raum mit großen Schritten. Nach langer Zeit stand er vor der riesigen Bettstatt stille. Ja, jetzt sah er klar! Jede Einzelheit fand ihre logische Erklärung, auch die versuchte Schändung und der Überfall der bewaffneten Strolche auf Ma Jung! Das Geheimnis des Roten Pavillons war ungeheuer widerwärtig, noch fürchterlicher als sein dortiger Alptraum, nachdem er den weißen nackten Körper der Kurtisane auf dem roten Teppich entdeckt hatte! Es schauderte ihn plötzlich.
Der Richter verließ den Pavillon der Blumenkönigin und ging ohne Umweg zur Herberge der »Ewigen Wonne«. Vor dem Ladentisch stehend, übergab er eine seiner roten Besuchskarten dem Geschäftsführer, dem er befahl, sie unverzüglich zur Residenz des Vorstehers mit der Weisung bringen zu lassen, daß der Assessor Herrn Feng Dai und dessen Tochter so bald wie möglich bei sich zu sehen wünsche.
Als Richter Di zum Roten Pavillon zurückgekehrt war, trat er auf die Veranda hinaus. Über das Geländer
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