Rico, Oskar und das Herzgebreche
sie. Ich wohnte im selben Haus wie sie. Damit war ich mindestens so gut wie ein Popstar. Und nicht nur ich, sondern selbstverständlich auch â
»Das ist der andere!«, röhrte Afra plötzlich.
Ich drehte mich um. Hinter mir stand Oskar. Er hielt eine Schrippe in der Hand, von der zu beiden Seiten das Nutella förmlich runtertropfte, und seine Oberlippe war braun beschmiert. Er sah völlig beknackt aus mit der riesigen Sonnenbrille, aber Afra starrte ihn trotzdem so begeistert an wie eins von diesen kreischenden Mädchen, die bei Rockkonzerten den Jungen auf der Bühne Teddybären und ihre Unterwäsche zuwerfen. Woran man mal sieht, dass manche Mädchen nicht nur sensibel und leicht verletzlich sind, sondern auch hoffnungslos bescheuert, denn es würde ja wohl kein Junge auf der Welt freiwillig Schlüpfer mit rosafarbenen Blümchen oder kleinen Schmetterlingen drauf anziehen.
»Was für ein anderer?«, sagte Oskar.
Neben ihm ging die Schlafzimmertür auf und Mama trat in den Flur, völlig verschlafen. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihren Morgenmantel mit den schönen japanischen Schriftzeichen überzuwerfen. Ein T-Shirt hatte sie auch nicht an. Oskar guckte entgeistert auf ihren nackten Busen. Ich war heilfroh, dass Mama gestern nicht bei einem Rockkonzert gewesen war; so trug sie immerhin noch einen Slip.
»Mele?«, sagte sie mit einer Stimme wie ein Eiswürfel.
»Ja, Frau Doretti?«
»Schnapp dir deine Schwester. Und dann seht zu, dass ihr Land gewinnt. Besuchszeit ist später.«
»Aber â«
»Ich hab noch zwei freie Plätze vor meinem Fenster. Wenn ich euch da raushänge, denken die Leute, das Haus hätte âne Krawatte.«
»Wir wollten ja bloàâ«
»Abmarsch!«
»Genau!« Ich zeigte nach unten. »Und vergesst eure Tasche nicht.«
Mele warf den Lockenkopf in den Nacken, wirbelte herum und schoss auf ihre Wohnung zu, gefolgt von Afra, die aus irgendeinem Grund schon wieder kicherte. Kurz vor ihrer Tür drehte sie sich noch mal um. »Die blöde Tasche gehört uns nicht«, rief sie schnippisch. »Die stand schon da.«
Sie knallte ihre Tür so laut und fest zu, dass das Treppengeländer wackelte. Fitzke konnte unmöglich zu Hause sein. Er wäre sonst längst wie ein Gewitter auf die Mädchen runtergekommen.
»Zwei«, sagte Oskar neben mir abwesend.
»Was?«
»Das Haus hätte zwei Krawatten.«
Seine Ohren waren knallrot und er stierte immer noch Mama an, die mit einem leichten Kopfschütteln, als wäre ihr eben erst eingefallen, dass es auch sensible kleine Jungen gibt, die Arme endlich vor ihren Brüsten verschränkte.
»Entschuldigung«, murmelte sie. »Aber um diese Zeit ⦠Ich zieh mir rasch was über.«
Oskars Blick löste sich von ihr und fiel auf die grüne Sporttasche. Seine Lippen wurden schmal. Er hob die Tascheauf und schlappte damit an mir vorbei zur Küche. Ich drückte die Tür zu und spurtete ihm nach.
»Hey, was willst du damit?«
»Die gehört mir.« Er wuchtete die Tasche achtlos auf den Tisch, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nahm sich rasend schnell die zweite Schrippenhälfte, die Butter und das Nutellaglas vor.
»Und wer hat sie vor unsere Wohnung gestellt?«
»Es sind Klamotten drin«, sagte er. »Frische Socken und Unterwäsche, T-Shirts und mindestens ein ungebügeltes Hemd. Eine braune Cordhose, eventuell ein Anorak und noch ein Paar andere Schuhe. Bestimmt auch ein Brief oder ein Zettel.«
Ich zog den ReiÃverschluss der Tasche auf und griff hinein. Der Zettel lag ganz obenauf. Die Schrift war kaum leserlich. An seiner Handschrift erkennt man den vornehmen Menschen, hatte Frau Dahling mal zu mir gesagt, als ihr meine Ferkelklaue aufgefallen war. Da hätte sie mal diese hier sehen sollen.
Hallo, Tanja, begann ich das Gekrakel langsam vorzulesen. Ist hoffentlich okay, wenn Oskar ein paar Tage länger bei Euch bleibt. Muss Abstand finden. Melde mich wieder. Lars
Ich lieà den Zettel sinken. Wer war Lars?
Hinter mir erklang das Tapsen nackter Schritte im Flur und das leise Rascheln vom Stoff des japanischen Morgenmantels. »Abstand von was denn?«, hörte ich Mama sagen, aber ich drehte mich nicht zu ihr um. Ich konnte nur Oskaranschauen. Er klappte die zweite Schrippenhälfte zusammen. Der Nutellarand auf seiner
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