Rico, Oskar und der Diebstahlstein
viele, dass über dem Kiesling irgendwann die Decke einstürzte.
»Falls das gestern Abend wirklich ein Einbrecher war, der was mitgenommen hat«, sagte ich, »wonach sollen wir dann überhaupt suchen? Wir wissen doch gar nicht, was es war.«
Ich fand, das war eine ziemlich schlaue Feststellung, aber die rauschte an Oskar natürlich wieder vorbei. Genauer gesagt, verpuffte sie irgendwo in seinem Rücken, denn er stand vor dem Sekretär und zog gerade eine Schublade auf. Ich hörte, wie er durch die Zähne pfiff, und trabte zu ihm rüber.
»Was denn?«
»Guck mal.«
Ich sah neugierig über seine Schulter. In der Schublade lag eine Kassette. Sie war unverschlossen. Ein paar Geldscheine und zwei Heftchen lagen darin.
»Bargeld und zwei Sparbücher«, stellte Oskar fest.
»Wie viel Geld ist es denn?«
»Das geht uns nichts an.«
Er klappte die Kassette wieder zu, schloss die Schublade und drehte sich um. »Wenn der Einbrecher an Geld nicht interessiert war ⦠woran dann?« Er stand ganz still, wendete nur den Kopf von einer Seite zur anderen und wieder zurück und sah sich dabei konzentriert um: Wände, FuÃboden, Schrank, Regale.
Ich versuchte genauso konzentriert zu gucken wie er. Aber ich sah nur Steine, Steine und nochmals Steine, und meine Nase war voll von dem Geruch nach Fitzke. Ich wurde ganz benommen. Es war, als hätte jemand alles aus meinem Kopf mitten ins Zimmer reingeschüttet oder das ganze Zimmer rein in meinen Kopf. Erst verstand ich gar nicht, warum. Aber plötzlich wurde mir bewusst, dass wir hier eigentlich nicht hingehörten. Fitzke hatte hier vor einer Woche noch drin gelebt, zwischen all seinen vertrauten Sachen. Er hatte sich was zu essen gemacht, ferngesehen, die Zeitung gelesen, ab und zu nach seinen Steinen geschaut, sein Journal geführt ⦠Und jetzt war er wahrscheinlich beklaut worden, zwei kleine Jungs standen ohne Einladung zwischen seinen geliebten Steinen, und irgendwann demnächst würde einer kommen und sagen, was für ein dummes Gerümpel, weg damit, aber die Kaffeemaschine in der Küche sieht schön neu und teuer aus, die behalte ich.
»Ich glaube, ich krieg eine Trauerwelle«, sagte ich.
»Und ich glaube â¦Â«
Ohne den Satz zu beenden, ging Oskar entschlossen auf den Wandschrank zu. Soweit ich sehen konnte, war da nichts aufgebrochen. Wäre auch unnötig gewesen, denn in jeder Tür steckte ein passender kleiner Schlüssel. Oskar machte die mittlere Tür weit auf, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm ein Holzkästchen heraus und klappte es auf.
Bei unserem Besuch letztes Jahr hatte ich den Kalbstein nicht mal anfassen dürfen. Er war Fitzkes einziger Züchtungserfolg, und ich wusste noch genau, wie er ausgesehen hatte: nicht mal so groà wie mein Daumennagel, graubraun mit einem weiÃen Streifen mittendurch und knubbelig wie eine winzige Kartoffel. Er hatte in diesem Kästchen gelegen, auf blauen Samt oder so etwas gebettet. Das Kästchen selber war aus fast schwarzem Holz gearbeitet, in den Deckel war ein Elefant aus Elfenbein eingelassen. Letztes Jahr, als ich es zum ersten Mal gesehen hatte, war ich völlig verblüfft gewesen, weil es so sehr meinem Sorgenkästchen glich, das in meinem Kopf in einem eigenen kleinen Regal stand, bloà dass auf dem statt eines Elefanten eine Schildkröte drauf war. Mein Sorgenkästchen war inzwischen fast so verstaubt wie Fitzkes Wohnung. Ich hatte schon lange keine groÃen Ãngste mehr gehabt, die ich reinpacken musste. Irgendwann hatte ich es, genau wie Fitzkes Schatulle, einfach vergessen.
Bis jetzt. Ich starrte entsetzt in das geöffnete Elefantenkästchen, das Oskar mir schweigend entgegenhielt. Ich hatte Gustav Wilhelm Fitzke bei der Beerdigung feierlich versprochen, sein Erbe treu und sorgfältig zu bewahren und zu beschützen. Und ausgerechnet der Teil des Erbes, der ihm am wichtigsten gewesen war, war geklaut.
Das Kästchen war leer.
Der Kalbstein war verschwunden.
Es gibt nichts Schöneres als den Urbanhafen zum Sommeranfang. Die Zweige der Trauerweiden wedeln auf dem Wasser herum, hellgrün und federleicht, und das Wasser im Hafen ist so strahlend blau, als wäre ein Stückchen vom wolkenlosen Himmel reingeplumpst. Menschen sitzen allein oder in kleinen Grüppchen im Gras und halten die Nasen der Sonne entgegen, und überall tschilpen Spatzen um
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