Rico, Oskar und der Diebstahlstein
nach oben wie durch einen Trichter.
Der Mommsen guckte erst ebenfalls rauf und dann runter auf seine Schuhspitzen. Seine Unterlippe stülpte sich langsam vor, wie eine Schnecke, die aus ihrem Haus rauskommt, um zu gucken, ob die Luft rein ist. »Hab mir ja nichts dabei gedacht«, murmelte er schlieÃlich. »Sie wollte doch bloà ein paar Erinnerungsstücke.«
»Wer?«
»Die Julia. Und es gab ja auch keinen Grund, sie nicht reinzulassen. Fitzke hätte nichts dagegen gehabt, sie hat sich hin und wieder um ihn gekümmert. Na ja, kümmern, was sag ich ⦠Jedenfalls hat sie ihn ab und zu besucht.«
Das war mir neu. Ich hatte nie mitgekriegt, dass irgendwer Fitzke besucht hätte. AuÃer letztes Jahr, da â¦
GELB!
Und endlich fiel mir alles wieder ein. Ich sah die junge Frau vor mir, wie sie Oskar und mir im Haus eilig die Treppe runter entgegenkam, in zerschlissenen Jeans und in einer hellgelben Sommerjacke. Am Vorabend unseres Ausflugs nach Neukölln war das gewesen, als wir in Mamas Nachtclub eindringen wollten. Die Haare der Frau waren dunkler und länger gewesen, nicht blond gefärbt und kurz, deshalb hatte ich mich nicht sofort an sie erinnert. Fitzke hatte ihr von oben hinterhergebrüllt: Lass dich hier nie wieder blicken! Da muss ich schon mit den FüÃen zuvorderst zur Wohnung raus, bevor du kriegst, was du willst â und selbst für den Fall hab ich vorgesorgt!
Und das hatte er, denn kurz zuvor war er beim Anwalt gewesen, um sein Testament zu machen. Und jetzt wusste ich oder glaubte zumindest zu wissen, was die junge Frau von ihm gewollt hatte. Ich wusste sogar, wer sie war.
»Julia Bonhöfer«, sagte ich.
Dass sie die Enkelin von Fräulein Bonhöfer aus dem Hinterhaus war, die sich vor Gott weià wie vielen Jahren in die Luft gesprengt hatte, hatte Fitzke Oskar und mir im Anschluss an sein Gebrüll im Treppenhaus erzählt. Ich wusste noch, wie verwirrt ich gewesen war, dass ein Fräulein eine Enkelin hatte.
Oskar sah mich so überrascht an, als hätte ich doch noch das mit der Wurzel aus achtzehn rausgekriegt, und der Mommsen guckte genauso überrascht, als wäre ihm bisher gar nicht aufgefallen, dass da noch einer war auÃer ihm und Oskar. Dann nickte er mit einer Selbstverständlichkeit, als gäbe es keine anderen Julias auf der Welt.
»Woher kannte sie Fitzke denn so gut?«, sagte ich.
»Na, von früher«, sagte der Mommsen. »Als sie mit ihrem Vater noch da oben wohnte.«
Er zeigte am abgesperrten Hinterhaus hinauf, das dank der Sprengung wahrscheinlich bis ans Ende aller Zeiten einsturzgefährdet bleibt. Leere Wohnungen starrten mich durch dunkle Scheiben an. Mit einem kleinen Schaudern dachte ich kurz an die Tieferschatten. Es hatten also drei Bonhöfers dort gewohnt â das alte Fräulein im Dritten und ihr Sohn mit seiner Tochter im Zweiten, auf den der Mommsen jetzt zeigte.
»Fitzke ging bei ihnen ein und aus«, fuhr er fort. »Da wurde noch Jahre später dieses und jenes gemunkelt â dass er und die Bonhöfer mal was miteinander gehabt hatten, ihr versteht schon. Ging aber angeblich nicht lange, die Sache. Dem Fitzke waren wohl seine Steine wichtiger als die Frauen.«
»Dann war der Sohn von Fräulein Bonhöfer â«
»Ein Ableger von Fitzke?« Mommsen lachte kurz auf. »Nee. Der stammte von irgendeinem Kerl, der die Bonhöferâsche mit dem Balg sitzen lieÃ, Ende der Fünfziger. Der Fitzke zog erst Anfang der Sechziger hier ein. Und man mag ja von ihm halten, was man will, aber offenbar kümmerte er sich um den Jungen. Und dass ihr mal nicht denkt, das wäre selbstverständlich gewesen. Eine unverheiratete Frau mit Kind, das war seinerzeit noch ein richtiger Skandal. Die wurden behandelt wie Aussätzige.«
»Von wem denn ausgesetzt?«
»Aussätzige, du Pappkopf!«, schnaubte der Mommsen. »Wie jemand mit Pest oder Lepra oder was weià ich! So war das eben früher. Aber Zeiten ändern sich, Menschen ändern sich, Meinungen ändern sich. Und der Fitzke pfiff sowieso auf das, was die Leute sagten. Er fand wohl Gefallen an dem Jungen und kümmerte sich um ihn. Und als der Junge erwachsen war und eine eigene Tochter bekam, kümmerte er sich auch um diese Tochter.«
»Julia.«
»Mhm. Ein schwieriges Kind. Ihr Vater musste sie allein aufziehen, unterstützt von dem alten
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