Rico, Oskar und der Diebstahlstein
weniger gehörten. Aber er überlegte. Er überlegte so lange, dass ich ihn schon fragen wollte, ob er seinen Gästen in der Zwischenzeit nicht was anbieten wollte, ein Erfrischungsgetränk oder eine kleine Erfrischungsspeise zum Beispiel.
»Es ist nett von euch, dass ihr zu mir kommt und nicht gleich zur Polizei gerannt seid«, sagte er endlich. »Aber ich befürchte, ihr seid bei mir an der falschen Adresse. Julia und ich pflegen nicht gerade den engsten Kontakt.«
»Es würde uns ja schon reichen, wenn sie uns sagen, wo wir sie finden können«, sagte Oskar.
»Genau«, warf ich ein. »Sie kann auch ruhig weiter weg wohnen. Wir haben Tageskarten für die Bahn.« So musste er sich keine Sorgen machen, dass unser Taschengeld für die Fahrt draufging. Er musste ja nicht noch mehr Falten kriegen, nur wegen uns.
Der Bonhöfer lieà sich Zeit mit einer Antwort. Er wandte den Kopf, und sein Blick glitt über die Fotos an der Wand, blieb kurz auf dem hängen, wo Julia ihn umarmte, wanderte weiter über die nächsten Bilder, zu dem niedlichen Tulpen-Schlüsselbrett bei der Tür, und kehrte zuletzt zurück zu Oskar und mir.
»Ich weià nicht, wo sie sich gerade aufhält«, sagte er. »Wir haben kein wirklich gutes Verhältnis. Julia war schon immer ein schwieriges Kind. Und ich befürchte, ich war kein einfacher Vater.«
Genau dasselbe hatte der Mommsen auch gesagt: dass Julia ein schwieriges Kind gewesen war.
»Sie hat aber auch manchmal so eine Art â¦Â« Der Bonhöfer schüttelte den Kopf. »Jedenfalls wohnt sie bei ihrem aktuellen Freund, denke ich. Sie wohnt immer bei ihren Freunden.«
»Und wer ist das?«, sagte Oskar.
»Kenne ihn nicht. Will ihn auch nicht kennen.« Er seufzte. »Julia hat ein unglückliches Händchen für zwielichtige Typen.«
»Haben Sie ihre Handynummer?«
»Ich weià ja nicht mal, ob sie ein Handy hat.« Der Bonhöfer hob beide Hände hoch. »Es tut mir leid, ich kann euch wirklich nicht weiterhelfen. Natürlich kann ich Julia von euch erzählen, wenn sie irgendwann mal wieder bei mir auf der Matte stehen sollte, und â«
»Würde sie den Stein denn freiwillig wieder rausrücken?«, unterbrach ihn Oskar.
»Wie ich sie kenne, wohl eher nicht. Allerdings, wenn man ihr vorschlagen würde â¦Â« Der Bonhöfer sah mich erwartungsvoll an. »Vielleicht könntest du mit ihr ja eine Abmachung treffen? Dass du dir den Stein ab und zu anschauen kannst?«
»Ich will aber keine Abmachung«, sagte ich fest. »Ich möchte den Kalbstein wiederhaben. Julia kann ja einen von den anderen Steinen haben. Von den normalen. Von mir aus sogar zwei.«
»Tja, wenn das so ist â¦Â« Der Bonhöfer holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über seinen silbernen Drahtbürstenkopf. »Sie hat sehr an Fitzke gehangen. Wie an einem echten GroÃvater. Und sie weiÃ, genau wie du, was ihm speziell dieser Stein bedeutet hat. Sie würde ihn dir nicht zurückgeben.«
»Glaubt sie denn, dass der Stein ⦠dass er wirklich gekalbt ist?«
Der Bonhöfer winkte ab, und diesmal grinste er sogar. »Das glaubt ernsthaft hoffentlich keiner. Im besten Fall war diese Steinzucht einfach die Absonderlichkeit eines unglücklichen, unzufriedenen alten Mannes.«
»Und im schlimmsten Fall?«
Das Grinsen erlosch wie eine Kerze, die ausgepustet wurde. »Ein Mensch, dem tote Dinge wichtiger werden als lebendige, immer wichtiger, je älter er wird? Der andere Menschen so sehr verprellt, bis sie sich zuletzt ganz von ihm zurückziehen, weil sie seine Selbstsüchtigkeit nicht mehr ertragen? Was meint ihr?« Der Bonhöfer sah Oskar und mich abwartend an, dann zuckte er die Achseln. »Fitzke war verrückt. Harmlos verrückt, aber verrückt.«
Oskar gab einen kleinen, zustimmenden Ton von sich.
»Und Sie?«, sagte ich zögerlich.
»Ich?«
»Auf dem Friedhof, gestern ⦠da haben Sie Fitzke doch einen Stein in sein Grab nachgeworfen, oder?«
»Und?«
»Na, wenn Sie ihn doch eigentlich nicht mehr leiden konnten â¦Â«
»Man muss jemanden nicht mögen, um ihm Respekt zu erweisen. Er war für mich und für meine Mutter da, als niemand sonst für uns da war. Damals war das etwas, das zählte.« Der Bonhöfer lächelte kurz, und sein Blick wurde
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