Rico, Oskar und der Diebstahlstein
Fitzke anfangs nicht glaubte, wie auch ihr Vater nicht an Fitzkes Steine glaubte. Vergessen hatte Julia den Rubin aber dennoch nicht. Letztes Jahr, als sie oder ihr Justin in Geldnöte kam, fiel er ihr wieder ein. Sie ging zu Fitzke und bat ihn um den Stein. Fitzkes Gebrüll im Treppenhaus zeugte davon, dass sie nicht bekommen hatte, was sie wollte. Aber nachdem er dann gestorben war ⦠Zehntausend Euro, erklärte Oskar, sind nicht viel Geld, gemessen an dem Vermögen, das man für erstklassige geschliffene Rubine erhält. Einen Rubin zerschneiden und schleifen können aber nur Fachleute. Und dieser Exfreund von Julia, der Hehler, scheint solche Fachleute zu kennen.
Wir gehen davon aus, dass Julia also auÃer dem Kalbstein auch den Rubin bei sich hat. Auf gewisse Weise ist ihr der Kalbstein wohl dasselbe wert wie mir: Er ist das Andenken an Fitzke. Bloà hätte Fitzke nicht gewollt, dass sie ihn behält.
Und deshalb werden Oskar, Sven und ich mit etwas Glück heute Nacht nicht nur einen Stein zurückstehlen, sondern zwei.
Um Viertel nach zwei klopfte es leise an die Schuppentür. Porsche stellte die Ohren hoch. Ich knipste hastig die Taschenlampe aus. Die Tür schwang auf, und ein schwarzer Schattenriss drückte sich zu uns herein. Lampe wieder an. Zwei marienkäferbadewasserblaue Augen strahlten uns entgegen. Oskar wackelte mit einer flachen Hand. Porsche wedelte und schnupperte sofort an Svens Hose. Ich hob auch eine Hand, ohne Wackeln. Für Hallo reichte das völlig aus.
Am späten Nachmittag, als wir hier angekommen waren, hatte uns ein Zettel erwartet, auf dem Sven sich dafür entschuldigte, dass er zu unserer Mittagsverabredung nicht kommen konnte. Seine Eltern hatten den ganzen Tag mit Freunden aus einem Nachbarort verplant. Er wünschte uns eine schöne Rückfahrt, hoffte, dass wir den Kalbstein erobert hatten und dass wir uns in Berlin mal sehen würden. Unten auf dem Zettel stand seine Adresse.
Sehr schön. Ein schlechtes Gewissen weniger.
Als Sven abends mit seinen Eltern zurückkam und die zu einem Strandspaziergang loszogen, sagte er, er wolle nicht mit. Sobald sie weg waren, rannte er zum Schuppen, um zu überprüfen, ob Oskar und ich keine verräterischen Spuren hinterlassen hatten. Er staunte nicht schlecht, als er entdeckte, dass wir gar nicht abgereist waren. Oskar, der am Strand nicht nur Fitzkes Journal, sondern auch das Bilderbuch studiert hatte, gebärdete ihm, dass wir eine Nacht länger bleiben würden. Irgendwie schaffte er es auch, zu gebärden, was wir vorhatten. Worauf Sven zurückgebärdete, dass er dann unbedingt mitmachen wollte. Das war okay, denn er war ja unser Komplize. Trotzdem überlegte ich sofort, wie ein Gehörloser mitkriegen soll, wenn man ihm im Notfall zubrüllt, dass er um sein Leben laufen soll. Eine Gebärde für frische Unterwäsche gab es in dem Bilderbuch auch nicht.
Das Coole war dann aber, dass Sven uns mit ins Haus nahm. Toilette, Dusche, Abendessen. Ganz offiziell, jedenfalls Klo und Essen. Sven würde seinen Eltern erzählen, dass wir geklingelt hatten, nachdem sie zu ihrem Spaziergang aufgebrochen waren. Sie hatten uns leider verpasst, so ein Pech, sellawie!
»Taschenlampe?«, sagte Oskar neben mir.
»Einsatzbereit.«
»Rucksack?«
»Gepackt.«
»Porsche?«
»Angeleint.«
»Kondition und Moral?«
»Ehm â im Rucksack?«
»Oh, Mann ⦠Okay, dann los!«
Normalerweise ist um halb drei Uhr nachts die Welt so still, dass ein verdächtiges Geräusch kilometerweit zu hören ist. Man muss nur auf einen trockenen Zweig treten, und schon klingt es, als würde ein frisch gefällter Baum krachend umstürzen. Doch heute Nacht war es nicht still. Heftiger Wind brauste durch den Garten, als wir den Holzschuppen verlieÃen. Er fuhr in die Obstbäume und schüttelte ihre Ãste und Zweige durch. Die Luft war so frisch, dass ich froh war, meinen dicken Pulli angezogen zu haben. Darüber die Regenjacke, nur für den Fall.
Das Wohnhaus am anderen Ende des Gartens lag im Dunkeln, ein schwarzer Fleck vor noch mehr Schwarz. Irgendwo dadrin schliefen Svens Eltern, nicht ahnend, dass sie ihren Sohn womöglich nie lebend wiedersehen würden, ob mit oder ohne frische Unterwäsche. Ich versuchte eine Prophezeiung hinzukriegen, aber da kam nichts. Die letzte hatte ich daheim in der Dieffe gehabt, als
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