Rico, Oskar und die Tieferschatten
bekommen. So deutlich, mit so klaren Umrissen, hatte ich einen Tieferschatten noch nie gesehen. Er kam von der einen Seite, sagen wir mal rechts, bewegte sich zur anderen Seite, also nach links, war dann für eine Weile nicht zu sehen, kehrte zurück und verschwand in die Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war, also wieder nach ... links?
Ist ja auch egal. Der Tieferschatten verschwand. Und in mir klackerte etwas. Erst dachte ich, es wären die Bingokugeln, die sich bisher erstaunlich ruhig verhalten hatten.
Aber das hier hörte und fühlte sich anders an. Es hörte und fühlte sich an, als wären ein paar Puzzlesteinchen, die bis jetzt geduldig gewartet hatten, soeben an ihren richtigen Platz gefallen.
Plötzlich wusste ich alles. Also gut, fast alles.
Auf jeden Fall wusste ich, was ich nun tun musste.
FAST SCHON DONNERSTAG
IM HINTERHAUS
Trotz der weit geöffneten Tür zum Dachgarten roch es in Marraks Wohnung abgestanden und nach alten Socken. Seine Freundin musste ein ganz fürchterliches Waschmittel benutzen. Ich linste vom Flur aus durch die angelehnte Tür ins Schlafzimmer. Der Marrak lag allein im Bett. Sein Schattenriss hob und senkte sich gleichmäßig. Er schnarchte.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Es war beinahe unmöglich gewesen, mich geräuschlos durch die knisterigen Bambusstangen des Paravents auf dem Dachgarten zu quetschen. Dann hatte ich mir beinahe den Hals gebrochen, als ich auf der spiegelglatten Wendeltreppe zu Marraks Wohnung ausrutschte und mich gerade noch am Geländer festhalten konnte. Der Mond stand hoch am Himmel, aber da er knapp vierhunderttausend Kilometer entfernt leuchtete, war es hier drinnen fast so duster wie im Keller der Dieffe 93.
Der Keller ...
Auf diesem Weg, davon war ich inzwischen überzeugt, schaffte der Bühl seine Opfer unauffällig ins verschlossene Hinterhaus. Dessen Kellerräume stehen mit denen vom Vorderhaus in Verbindung. Der Zugang ist eigentlich für alle Hausbewohner verboten - da steht überall Wasser drin. Vor nichts habe ich so große und schreckliche Angst wie vor Wasser. Deshalb habe ich nach unserem Einzug in die Dieffe auch nur einmal mit Mama in den Keller reingeguckt. Funzeliges Licht von einer einsamen nackten Glühbirne. Klamme Luft. Ein fieser Geruch und noch dazu tropfende Geräusche, die klangen, als kämen sie aus unergründlichen Weiten und Tiefen. Nein danke, ohne Rico!
Der Bühl lud die Kinder aus dem Kofferraum seines Autos und schleppte sie ins Haus, alle vorher bewusstlos gemacht und hübsch verpackt, damit keiner was merkte, vielleicht in einem großen Koffer oder in einem Wäschesack wie dem vom Marrak. Dann an Mommsens Parterrewohnung vorbei runter in den Keller, durch das stockdunkle Plitschplatsch und so weiter, und schließlich ab ins Hinterhaus. Wo er die Kinder im dritten Stock gefangen hielt, bis das Lösegeld für sie bezahlt war. Damit sie nicht schreien konnten, klebte der Bühl ihnen Tesafilm über den Mund oder knebelte sie mit stinkigen alten Handtüchern. Und immer, wenn er sie aufsuchte, um ihnen was zu essen zu bringen oder sie aufs Klo zu lassen und dergleichen, huschten die Tieferschatten an den Fenstern in Fräulein Bonhöfers Wohnung vorbei.
So weit war ich mit meinen Schlussfolgerungen beim Nudellutschen gekommen. Aber dann klaffte eine Lücke - etwas fehlte. Dieses Etwas nagte hartnäckig an mir herum. Es hatte irgendwas mit vorwärts oder rückwärts zu tun, mit rechts oder links, mit vorher oder nachher, aber ich bekam es einfach nicht zu fassen. Irgendwann war die Bingomaschine in meinem Kopf so heiß gelaufen, dass ich befürchtete, die RBs würden mich nach ihrem Urlaub mit übergekochtem Gehirn an ihrem Küchentisch finden. Eine schöne Sauerei. Also hatte ich aufgegeben.
Meine Augen gewöhnten sich schneller an die Dunkelheit in Marraks Wohnung, als ich gedacht hatte. Die Durchsuchung des Schlafzimmers hob ich mir für den Schluss auf — mit dem schnarchenden Marrak drin war es dort am gefährlichsten. Was ich suchte, fand ich hoffentlich in einem der anderen Zimmer. Ich tastete mich im Schneckentempo kreuz und quer durch die Gegend. Überall Fehlanzeige - aber dann!
Ins Bad hatte ich zunächst gar nicht reinschauen wollen, aber als zuletzt kein anderer Raum mehr übrig war, tat ich es doch. Es war wie so eine Art Ausrede, damit ich noch nicht ins Schlafzimmer musste. Der Kachelboden war voller Wassertropfen. Der Marrak hatte vor dem Schlafengehen geduscht. Das war ja schon mal
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