Rico, Oskar und die Tieferschatten
brüllte ich los. »Der ALDI-Kidnapper, der Oskar entführt hat, das ist der ohne Sturzhelm! Ich weiß, wo er wohnt! Bitte, das müssen Sie mir glauben!«
Aus dem Telefon kam ein leises Pfeifen, als atmete jemand sehr langsam aus, der sich Mühe gab, nicht die Geduld zu verlieren. Bestimmt riefen ihn jeden Tag wer weiß wie viele Leute an, dachte ich, um angeblich Mister 2000 zu melden, sich in Wirklichkeit aber nur einen Jux zu machen. Wegen dieser Quatschköpfe musste ich jetzt womöglich dran glauben!
»Tatsächlich?«, sagte der Mann endlich. »Wo steckt er denn, Junge?«
»Mister 2000 wohnt in der Dieffenbachstraße 93 in Kreuzberg«, sagte ich sehr langsam und sehr deutlich und sehr stolz. »Vierter Stock, Vorderhaus links oder rechts. Der Bühl. Das heißt, eigentlich heißt er Ost... Nein, Westbühl. Simon Westbühl!«
Ich atmete tief durch. In der Leitung entstand eine kurze Pause, als hätten die Himmelsrichtungen sie verstopft. Dann quäkte die Stimme empört: »Jetzt pass mal auf, Kleiner! Ich sehe deine Nummer auf meinem Display! Wenn du noch mal hier anrufst, um uns zu verschiffschaukeln -«
Na bitte! Ich drückte schnell das Telefon aus, ohne den Mann ausreden zu lassen. Hatte ich mir doch gleich gedacht, dass es so laufen würde. Jetzt konnte sich zumindest niemand beschweren, ich hätte es nicht versucht. Aber wirklich weiter half mir das auch nicht.
Ganz ruhig, Rico!
Es konnte ja wohl nicht so schwer sein, sich ein wenig zu konzentrieren und ordentlich nachzudenken. Da ich vorläufig bei den RBs festsaß, konnte ich genauso gut überlegen, wie es mit Oskar und dem Bühl weitergehen würde, schließlich schwebte er in noch größerer Gefahr als zuvor. Der Bühl gab auf sein Leben keinen Pfifferling mehr. Pfifferlinge sind Pilze, also hatte er Oskar vielleicht irgendwo in einen Wald verschleppt?
Blödsinn.
Wo versteckt man jemanden, den man entfuhrt hat? Kommt drauf an, wie man ihn unterbringt. Wenn man dafür sorgt, dass er genug zu essen und zu trinken hat und ein Klo in der Nähe, kann man ihn weit von sich weg verstecken. Das Opfer kann sich dann um sich selber kümmern. Aber Bühls Opfer waren kleine Kinder, fast noch Dötzeken. Die würden aus lauter Panik vor einem gefüllten Kühlschrank glatt verdursten und verhungern und sich noch dazu ständig in die Hosen machen. Dann hätte er den Salat. Nein, je länger ich nachdachte, umso überzeugter war ich davon, dass der Bühl die entführten Kinder in seiner Nähe gefangen hielt, und ...
... und seine Nähe war auch meine Nähe!
Exzellente Leistung, Rico!
Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich allein für den letzten Nachdenkschritt ungefähr zwei Stunden brauchte. Na gut, beinahe drei. Inzwischen hatte ich mich in die Küche der RBs verzogen. Draußen war es längst ratzeduster. Nur der Mond schickte etwas Licht durch die Fenster. Es gab keine Gardinen und ich wagte nicht, das Licht anzuknipsen. Nachdem er gemerkt hatte, dass ich die Polizei nicht verständigt hatte, hielt der Bühl sicher immer noch nach mir Ausschau.
Ich trank Leitungswasser und durchforstete die Küche nach etwas Essbarem. Dass der Kühlschrank leer war, wusste ich zwar, guckte aber trotzdem noch mal rein. Nix zu machen. In einem Hängeschrank entdeckte ich ein Päckchen Nudeln, aber der Gasofen der RBs ist so ein supermodernes Teil, vor dem ich Angst habe. Man will bloß ein Ei kochen, und schon fliegt einem die Wohnung um die Ohren. Also öffnete ich die Nudelpackung, lutschte eine Nudel nach der anderen, guckte dabei auf die Fassade vom Hinterhaus und wartete auf das Auftauchen vom freiwillig explodierten Fräulein Bonhöfer, die dort nach ihrem Aschenbecher suchte.
Die Nudeln fühlten sich riffelig im Mund an. Rigatoni, stellte ich ohne größere Anteilnahme fest, und mit einem traurigen Gefühl im Bauch überlegte ich, dass letzten Freitag, vor der Abreise der RBs, wahrscheinlich der dicke Thorben die Fundnudel aus seinem Zimmerfenster oder über das Dachgartengeländer geworfen hatte. Würde jedenfalls zu ihm passen. Alles hatte mit dieser Fundnudel angefangen, denn ohne sie hätte ich Oskar nicht getroffen, und jetzt würde alles mit einer letzten Fundnudel enden, die der Bühl in mein abgeschnittenes Ohr steckte.
Im dritten Stock vom Hinterhaus marschierte der Tieferschatten von Fräulein Bonhöfer an einem der Fenster ihrer ehemaligen Wohnung vorbei. Ich spuckte die letzte Rigatoni aus und starrte nach drüben, zu geschockt, um wirklich Angst zu
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