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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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griff nach dem Glas und stellte es ein Stück weiter weg wieder ab. Also, das ging so nicht! Ein bisschen mehr Ordnung musste der Bühl sich schon angewöhnen. Unordnung bringt einen bloß völlig durcheinander, besonders dann, wenn sie sich auch noch mit einem nackten Busen mischt.
    Als ich die Zeitung hochhob, um sie zusammenzufalten, kam darunter ein aufgeklappter kleiner Stadtplan von Berlin zum Vorschein. Daneben lag ein Filzstift. Ein paar dicke Punkte auf dem Stadtplan waren damit rot markiert. Es war das Muster, das heute auf jeder Berliner Tageszeitung abgebildet war.
    Sechs rote Kreise.
    Sechs Entführungen.
    Ich starrte entsetzt die roten Kringel an. Es gibt ja diesen Spruch, dass manche Leute zwei und zwei nicht zusammenzählen können. Mag sein, da ist was dran. Aber was kann ich dafür, dass ich mich jedes Mal verrechne und dabei immer nur vier rauskriege?
    Jedenfalls fast immer.
    Um mich herum schwappte der Winter über dem Wohnzimmer zusammen. Mir wurde so kalt, als hätte jemand mein Herz in einen riesigen Eiswürfel verwandelt. Oskars Entführung war erst gestern Abend in der Sondersendung der Nachrichten bekanntgegeben worden. Aber die sechs roten Kreise auf dem vor mir liegenden Stadtplan waren bereits gestern Nachmittag eingezeichnet gewesen, als ich den Bühl besuchte. Der Bühl hatte von Oskars Entführung gewusst, Stunden bevor der Rest der Welt davon erfuhr! Und da war noch mehr ...
    Der Klimpermann hat gesagt, wenn ich ihn verpetze ...
    Das Klimpern von Bühls Handy hatte ich eben erst wieder gehört — Mäuse, die über die Tastatur von einem Klavier liefen.
    Kalt und kälter. Eiskalt.
    Als ich so vorsichtig wie möglich vom Sofa aufstand, glaubte ich fast, ein Knacksen zu hören, wie von einem Eiszapfen, den man von einer Dachrinne bricht. Ich schlich zur Wohnzimmertür und lugte in den Flur. Die Stimme vom Bühl drang leise, aber aufgebracht aus seiner Küche, und was ich hörte, ließ alle Härchen auf meinen Armen nach oben stehen.
    »... die zweitausend Euro erst zusammengekriegt, nachdem Sie mit Ihrer rührseligen Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen sind, um irgendeine Bank zu einem kostenlosen Kredit zu bewegen! Ihnen scheint nicht klar zu sein, in was für eine unmögliche Lage Sie mich damit gebracht haben! Tut mir leid, aber das Leben des Jungen ist jetzt keinen Pfifferling mehr wert ...«
    Einen Atemzug später war ich draußen im Hausilur. Einen weiteren Atemzug später fiel mir ein, dass ich die Zeitung nicht zurück über den Stadtplan geschoben hatte. Ich wirbelte herum, aber zu spät. Die Tür zu Bühls Wohnung fiel mit einem donnergewittermäßigen RUMMS! ins Schloss.
    Jetzt auch noch das.
    Hinter der Tür rief der Bühl: »Rico? Rico!«
    Ich spurtete los.

    Was die Leute in den Krimis fast immer falsch machen, wenn sie verfolgt werden: Sie rennen auf ihrer Flucht genau dorthin, wo es am gefährlichsten ist.
    In der Zeit, die der Bühl benötigte, um herauszufinden, was ich in seinem Wohnzimmer herausgefunden hatte, lief ich nicht runter in unsere Wohnung, wo dieser verlogene Kidnapper mich sofort suchen würde. Stattdessen hetzte ich, so schnell und so geräuschlos ich konnte, ein Stockwerk weiter nach oben. Den Schlüssel der RBs trug ich ständig bei mir in der Hosentasche, damit ich ihn nicht verlegte. Jetzt ließ ich mich damit in die Dachwohnung ein, drückte die Tür hinter mir bis auf einen winzigen Spalt zu und lauschte.
    Keinen Moment zu spät. Aus dem Treppenhaus erklang das Öffnen einer Tür, dann die Stimme vom Bühl: »Rico?«
    Ich hörte, wie seine Schritte ihn schnell nach unten trugen, in den Zweiten. Wie er bei uns klingelte. Wie er an unsere Tür erst klopfte, dann heftig dagegenpochte.
    »Rico?«
    Für ein paar Sekunden herrschte Ruhe. Er überlegte. Er kam auf den einzig naheliegenden Gedanken, dass ich aus dem Haus gestürmt sein musste, wer weiß wohin, vermutlich zur nächsten Polizeistation, um ihn zu verraten. Endlich erneute Schritte, die Treppen rauf. Ich hielt die Luft an. Ein Stockwerk unter mir war Schluss. So leise ich konnte, drückte ich die Tür zu und presste mich mit dem Rücken dagegen. Und wartete. Und überlegte.
    Das Warten war der einfachere Teil. Was sollte ich jetzt bloß tun? Runter traute ich mich nicht. Womöglich lauschte der Bühl jedem Geräusch im Haus nach und würde mich im Vierten sofort abfangen. Wenn ich aus irgendeinem Fenster brüllte, wäre er schneller bei mir hier oben als irgendwer sonst. Er sah so stark

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