Riesling zum Abschied
erinnerte sie sich an den Ort. Sie war schon einmal hier gewesen, frühmorgens, genau vor dem weißen Fachwerkhaus mit rot abgesetzten Balken hatte sie gestanden, und ein Stück weiter in der Bäckerei hatte sie einen Milchkaffee getrunken. Das wiederholte sie jetzt. Die Briefe konnten warten. Der Kaffee |252| war so gut wie damals, und als sie am Stehtisch neben dem Fenster einen Butterkeks in den Kaffee tauchte, stand ihr plötzlich eine ganz andere Szene vor Augen: Neben dem Fachwerkhaus gegenüber stand ein Neubau, dazwischen lag eine Einfahrt, und genau aus dieser Einfahrt war Alexandra gekommen – frühmorgens.
Alexandra hatte damals nicht zu ihren Studenten gehört, ihr Gesicht war ihr nicht vertraut. Zu jener Zeit, erinnerte sich Johanna, war sie auf Erkundungstour gewesen. Und Alexandra war dort durch die Einfahrt auf sie zugekommen, da war sie sich absolut sicher, an ihrer Seite ein Mann. Manuel Stern war es nicht gewesen, an seine Lockenpracht hätte sie sich erinnert.
Sie stürzte ihren Kaffee hinunter, die Tüte mit den Keksen steckte sie in ihre Handtasche und ging hinüber. Die Einfahrt war ein Torweg, er führte zu einem dahinter liegenden Neubau mit einem Klingelschild und einer Gegensprechanlage. Von den drei Namen kannte sie nicht einen, ein Namensschild war weiß. Johanna sah sich um. Der Hof war asphaltiert, nirgends standen Blumenkübel oder Blumenkästen mit den unverwüstlichen Geranien, es parkten lediglich zwei Autos mit hiesigen Nummern neben der Haustür an den Müll- und Wertstofftonnen. Als sich jemand aus einem Fenster beugte und etwas rief, eilte sie aus dem Hof – jedoch mit dem Gefühl, etwas vergessen zu haben.
Sie fuhr das Stück zurück zum Bahnhof, aber da fand sich kein Briefkasten. Ein Passant schickte sie zum Bürgeramt, und kaum hatte Johanna die Briefe dort eingeworfen, kehrte sie zu dem kleinen Hof zurück.
Möglicherweise war es eine wichtige Spur. Sie musste mit Thomas Achenbach sprechen. Möglicherweise wusste er, ob es eine Verbindung zwischen der alten Dame in Gigondas und Professor Marquardt gab und welche Bewandtnis es mit dem Weingut hatte. Johanna bereute es längst, Madame Bernard nicht danach gefragt zu haben.
|253| Nach ihrer Rückkehr hatte sie Carl angerufen; er hatte im Guide Hachette zwar den Namen Meckling gefunden, aber keinen Marquardt. »Es gibt Lücken«, wie er gesagt hatte, »es werden nur Winzer aufgeführt, die ihre Weine zur Bewertung einreichen.«
Es gab noch einen weiteren Grund, Achenbach anzurufen oder ihn sogar herzubitten: Sie musste ihm sagen, dass er beobachtet wurde.
In Gedanken kehrte sie mit dem Telefon am Ohr in den Hof zurück. Sie betrachtete das Klingelschild. Das Weiß war nicht vergilbt, also war die Wohnung erst kürzlich frei geworden. So sehr Johanna sich das Gehirn zermarterte, so wenig erinnerte sie sich, mit wem Alexandra dort gestanden hatte. Manuel Stern kam keinesfalls infrage – und für einen Moment dachte sie an Markus und bedauerte, ihn neulich weggeschickt zu haben. Das Gefühl währte nicht lange, irgendwann musste Schluss sein, irgendwann musste man sich von liebgewordenen, neurotischen Angewohnheiten trennen. Außerdem erleichterte es die Annäherung an Carl.
»Suchen Sie etwas?«
Johanna fuhr zusammen, als sie die Stimme hinter sich hörte. Nach Luft schnappend drehte sie sich um und starrte entgeistert eine fremde Frau an, die nun ihrerseits erschrak.
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Bitte – aber als ich Sie sah, ich war gerade in der Küche«, sie zeigte zum Vorderhaus, wo im ersten Stock ein Fenster der Rückfront offen stand, »da habe ich gedacht, Sie suchen vielleicht jemanden. Ich wollte helfen.«
»Ich – heiße – Scholz«, sagte Johanna geistesgegenwärtig und streckte der Frau die Hand hin. Es schuf Vertrauen, sich mit Namen vorzustellen.
Die Frau ergriff ihre Hand. »Melchior, Elsa. Sie sind nicht von hier?! Das sieht man. Suchen Sie eine Wohnung, ja? Der Hausbesitzer, ihm gehört auch unser Haus, lebt in Koblenz. Aber ich habe Schlüssel, nur soll ich niemanden reinlassen, |254| es sind noch Möbel der Vorgänger drin. Es sind zwei Zimmer, ein kleines, ein großes, eine winzige Küche und ein schönes Bad, alles mit Rundbögen.«
Die Frau redete ohne Punkt und Komma, von der Wohnung kam sie auf ihr eigenes Leben, beklagte sich über die dauernde Abwesenheit ihres Mannes, Pendeln und Montage seien kein Leben, dann redete sie von Lorch, seinen Bewohnern, den Nachbarn
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