Riesling zum Abschied
Ihr Freund wird erst nach einigen Monaten wieder einen Antrag stellen dürfen. Dann ist das Semester verloren. Ja, da verliert man eine Sekunde lang die Kontrolle«, fuhr Marquardt nach innen gewandt fort, »und alles ist hin. Der Rest des Lebens ist verspielt. Das Schicksal geht bestialisch mit uns um.«
Nicht das Schicksal ist die Bestie, dachte Thomas, der Mensch ist es.
Er fuhr hinauf in den Taunus zum Reitstall und zeigte dem Pferdeknecht ein Foto von Florian.
»Nein«, sagte dieser langsam. »Der war nie hier.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Absolut. Das war jemand anderes. Er war älter.«
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»Wie schön, dass wir das unerfreuliche Thema so ausführlich und abschließend besprechen konnten.« Der Dekan stand auf und umrundete seinen Schreibtisch, um Johanna die Hand zu schütteln. »Ich bin sicher, dass wir die Gerüchte damit aus der Welt geschafft haben. Es ist klar, dass Ihre Beziehung zum Weingut Achenbach ausschließlich geschäftlicher Natur ist. Der Vorwurf, dass Sie früher für Environment Consult & Partners gearbeitet haben, ist lächerlich. Das ist uns bekannt. Wir haben Kollegen, die gleichzeitig diverse Unternehmen beraten.«
»Es ist immer die Frage, in welchen Kontext eine Information gestellt wird.«
»Genau. Das gilt für Naturwissenschaften wie für Geisteswissenschaften. Derart dumme Anschuldigungen verflüch tigen sich meistens. Ansonsten wollte ich Ihnen längst gesagt haben, dass wir uns freuen, dass wir Sie bei uns haben.«
Nichts löst sich einfach auf, es verändert seine Form, seinen Aggregatzustand, dachte Johanna, aber wozu widersprechen? Es war eine Redensart, ihr Einwand hätte sich besserwisserisch angehört, gerade nach diesem harmonischen Gespräch. Sie war bereits aufgestanden.
»Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Offenheit.« Plötzlich blieb sie stehen und blickte den Dekan an, sie runzelte die Stirn: »Etwas habe ich vergessen, was diese unselige Angelegenheit in einem ganz anderen Licht darstellt.«
|248| »Und das wäre?« Der Dekan hätte die Unterredung offen bar lieber an dieser Stelle beendet.
»An dem Abend, als Thomas Achenbach bei mir war, bin ich auf den Balkon gegangen, es war ein schöner, lauer Sommerabend, ich sitze oft auf dem Balkon und arbeite. Mir fiel an jenem Abend ein Mann auf, der an einem Wagen lehnte und Thomas Achenbach fotografierte, als er zu seinem Auto ging. Als er wegfuhr, folgte ihm der Mann.«
Der Dekan stieß hörbar die Luft aus. »Sind Sie sicher? Sie schließen einen Zufall aus? Sie meinen, dass ihn jemand bewusst fotografiert und verfolgt hat?« Die Skepsis war deutlich zu vernehmen.
»Nach unserem Gespräch jetzt bin ich mir sicherer als vorher. Als ich aus Gigondas zurückkam, waren die Gerüchte über mich und Thomas Achenbach bereits in Umlauf. Ich sagte Ihnen eingangs, dass es sich bis zu Herrn Florian zurückverfolgen lässt. Ob er es aufgebracht oder lediglich aufgeschnappt hat, wäre interessant herauszufinden.«
»Weshalb sollte er das tun?«
»Jetzt, wo ich mir das noch einmal bewusst vor Augen führe, bleibt mir kein anderer Schluss, als dass er gezielt vorgegangen ist.«
Der Dekan wehrte sich gegen diese Hypothese. »Sie unterstellen eine böse Absicht. Weshalb sollte jemand so etwas Absurdes tun?«
»Weil jemand mich und Herrn Achenbach diffamieren will. Wir sind die Einzigen, die sich nicht mit der Version von Manuel Stern als Mörder Alexandra Lehmanns zufriedengeben.«
»Sie sind tatsächlich von seiner Unschuld überzeugt, Frau Breitenbach?« Dem skeptischen Ausdruck nach war es der Dekan nicht.
»Wirklich überzeugt davon ist nur sein Freund Achenbach. Er versorgt ihn mit allen Informationen, die sein Studium betreffen.«
|249| »Das tun wir auch.«
»Sie?«
»Solange jemand nicht verurteilt ist, gilt die Unschuldsvermutung.« Der Dekan lächelte. »Das habe ich auch dem Staatsanwalt gesagt. Stern ist längst nicht exmatrikuliert. Wie kommen Sie zu der Annahme ...«
»Die öffentliche Meinung ist gegen ihn, auch die Studenten und Kollegen. Wenn es einen Täter gibt, beruhigt sich die Volksseele, man kann ruhig schlafen, die Gefahr ist gebannt, andernfalls ...«
»Sehr bedauerlich, aber so ist nun einmal die Realität. Anders wäre es auch mir lieber.«
»Ich habe gehört, dass für das Konzert bereits ein Ersatzpianist gesucht wird.«
»Dann stehen Sie hinsichtlich der Aufklärung unter beträchtlichem Zeitdruck ...«
»Falls Sie Einflussmöglichkeiten sehen, zögern Sie bitte
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