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Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Grote
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die Neubesetzung des Pianisten so lange wie möglich hinaus. Stern übt im Gefängnis, er macht eine Art Trockenübung, wie mir Thomas Achenbach erzählte, auf einer aufgezeichneten Tastatur. Er hört dabei die Interpretationen anderer Pianisten über Kopfhörer, Konzerte von Lang Lang, Maurizio Pollini und Annerose Schmidt und spielt dazu auf dieser Tastatur. Der Junge ist ein Phänomen. Allerdings ist sein Gesundheitszustand katastrophal. Er magert ab. Nein, kein Hungerstreik, er isst einfach nichts mehr.«
    »Es würde mich freuen, wenn er bald wieder frei wäre«, sagte der Dekan, und Johanna glaubte ihm, »zum einen wegen der Hochschule, zum anderen möchte ich gern sein Konzert hören, ich schätze Chopin sehr.« Er begleitete Johanna zur Tür, sie blieb erneut stehen. »Ist noch etwas? Ich habe gleich eine Sitzung.«
    »Eine letzte Frage. Ist Ihnen bekannt, ob Professor Marquardt in Frankreich ein Weingut besitzt oder betreibt?«
    Ratlosigkeit überzog das Gesicht des Dekans. »Er veranstaltet |250| ein Seminar zu Frankreich, das ist meines Wissens nach seine einzige Verbindung dorthin. Wieso fragen Sie?«
    »Ach, nur so   ...«
    Jetzt lächelte der Dekan. »Nein, Frau Breitenbach, bei Ihnen gibt es kein ›nur so‹. Wieso fragen Sie den Professor nicht selbst?«
     
    Beim Wein ging es stets um Gegensätze und darum, sie zu harmonisieren: Süße und Säure, Mineralität und Frucht, Gehalt und Leichtigkeit, Schlankheit und Fülle, das Harte und das Weiche, das Feste, aus dem er entstand, die Flüssigkeit, zu der er wurde. Das alles lag im Wesen des Weins, eines Getränks, dessen Charakter das Feste prägte. Taunusquarzit war das vorherrschende Material der Weinberge an den Hängen um Lorch, wohin Johanna sich allein aufgemacht hatte. Sie wollte die hiesigen Weine kennenlernen, heute mal ohne Mentor, nicht mit Carl, nicht mit einem Studenten, der sich beweisen wollte oder musste, mit niemandem, der ihr sein Wissen vorführte, selbst wenn es in bester Absicht geschah. Sie wollte sich nicht einen Geschmack in den Kopf reden lassen, keine Aromen schmecken, auf die sie nicht selbst kam. Es kam auf ihre Empfindungen an. Laquai war ihr empfohlen worden, ein kleines Weingut am Anfang des Mittelrheintals. Weiter nördlich endete der Rheingau.
    Über ihr lag Burg Ehrenfels, zur Linken auf einer winzigen Rheininsel der Mäuseturm. Seit 1858 war der ehemalige Zollturm des Mainzer Erzbischofs Hatto II. neugotisch wieder aufgebaut worden. Im 10.   Jahrhundert hatte der gnadenlose Kirchenmann trotz einer Hungersnot die »Kornkammern des Herrn« für die Armen verschlossen gehalten. Als ihre Proteste andauerten, waren die Hungernden in eine Scheune gesperrt und diese angezündet worden. Als der Gottesmann die Sterbenden auch noch verhöhnte, überschwemmten der Sage nach die flüchtenden Mäuse aus der Kornkammer die Gemächer des Bischofs und trieben ihn in |251| die Flucht. Hatto II. soll sich daraufhin auf eine winzige Insel geflüchtet haben, bis ihn die dortigen Mäuse bei lebendigem Leibe fraßen.
    Wie schade, dass nur im Märchen das Leben gerecht war. Wem wünschte Johanna ein derartiges Schicksal? Vor einigen Jahren hätte sie diese Frage noch beantworten können. Beim Anblick des Rheintals aber vergaß sie die Frage. Es trug den Titel eines Welterbes zu Recht. Kaum hatte sie Assmannshausen passiert, präsentierte sich am jenseitigen Ufer die Burg Rheinstein, ihr folgte auf vorspringenden Felsen die Raubritterburg Reichenstein. Weiter flussabwärts war durch einen kilometerbreiten Steinbruch das linke Rheintal verwüstet, das braune Geröll und der nackte Fels verdarben sowohl den Besitzern der Burg Sooneck wie auch den Bewohnern gegenüber die Aussicht. Nach diesem Schandfleck verlangte die nächste Burg nach Aufmerksamkeit, und die Insel Lorcher Werth erschien links unterhalb der Uferstraße.
    Mitten in Lorch, eingeklemmt zwischen der Uferstraße, einer Bahntrasse und steil ansteigenden Weinbergen, bog Johanna rechts in Richtung Wispertal ab. Beim Blick zur Seite sah sie die beiden Briefe auf dem Beifahrersitz, sie lagen seit zwei Tagen dort. Es war wie verhext, immer wieder vergaß sie, einmal geschriebene Briefe abzuschicken. Einer war an Frau Bernard in Gigondas gerichtet, der andere an Carl, sie hatte ihm seit Jahren nicht geschrieben. Aber bei dem, was sie ihm zu sagen hatte, wäre eine E-Mail verfehlt gewesen. Am Bahnhof fand sich bestimmt ein Briefkasten.
    Erst als sie anhielt, um nach dem Weg zu fragen,

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